Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
Lüftungsschächte.
»Versuchst du’s mir zuliebe, Marcellus?«
Marcellus holt tief Luft. »Na gut«, sagt er und verstummt wieder.
»Marcellus?«
»Ja, ja … Also … Irgendwann kam Onkel Mitch abends in mein Zimmer. Er legte sich auf mich, und an dem Abend ist mein Leben stehen geblieben wie eine Uhr. Es war nicht nur, dass es wehtat, was er mit mir machte. Oder dass es absolut widerlich ist und man sich zu Tode schämt. Das Schlimmste war, dass mir der Onkel dabei Sachen ins Ohr geflüstert hat.«
»Was denn?«
»Er hat gesagt … er hat gesagt …«
»Nur die Ruhe, Marcellus, lass dir Zeit.«
»Er hat gesagt, dass er mich liebt.«
Marcellus stöhnt im Dunkeln. Er weint lange, und niemand spricht ein Wort.
Aber dann hallt wieder seine Stimme durch die Schächte: »Mann, Scheiße, ich hab’s gesagt! O Mann, ich hab’s gesagt!«
»Ja, hast du. Supertoll, dass du das geschafft hast.«
48
»Will jemand weitermachen?«
»Ich.«
»Also los, Collie.«
»Als ich klein war, wohnten wir in Palissade, Oregon. Ein richtig nobles Haus, in der Innenstadt. Mein Vater war Chirurg und meine Mutter Chefin einer Werbeagentur. Meine Schwester und ich waren ein bisschen uns selbst überlassen, ein bisschen unruhig. Nicht böse, aber wohl schwierig, anstrengend. Unsere Eltern schlugen uns mit dem Gürtel, wenn sie abends heimkamen. Dann fingen sie an, uns irgendwelches Zeug zu geben, Tabletten, die unser Vater aus dem Krankenhaus mitbrachte. Gegen Depressionen und so. Sie nahmen das Zeug selber. Deswegen hörten sie zwar nicht auf, uns zu schlagen, aber sie lächelten dabei. Wir waren alle superglücklich, versteht ihr? Wegen diesem Dreck, den wir schluckten. Wir waren dermaßen glücklich, dass wir die ganze Zeit lachten und Spaß hatten, auch wenn wir eigentlich weinen wollten. Auch wenn es absolut normal und eigentlich notwendig gewesen wäre, zu weinen.«
Collies Stimme ist heiser geworden.
»Einmal«, fährt er nach einer Weile fort, »kam meine Schwester von der Schule heim und sperrte sich bis zum Abendessen im Bad ein. Sie war kurz vorher dreizehn geworden. Als sie wieder rauskam, war Blut in der Badewanne und an ihrer Unterwäsche im Wäschekorb. Ich fragte, was los ist; ich weiß noch, dass sie gleichzeitig weinte und lächelte. Sie sagte, es sei nichts. Dann setzten wir uns an den Tisch, und die Eltern erzählten von ihrem Tag und vom nächsten Urlaub in Florida, und meine Schwester sagte plötzlich: ›Also ich bin heute vergewaltigt worden.‹ Totenstille am Tisch, aber nie werde ich diese ganzen weichen Lippen vergessen und dieses Lächeln. Einen Moment lang war die Stimmung am Kippen, und unsere Mutter sagte: ›Wie bitte?‹, aber mein Vater nahm sich Essen nach und sagte: ›Aber nein, Kleine, das kann doch nicht sein, das bildest du dir nur ein.‹ Dann war wieder alles still, und schließlich sprang meine Schwester auf und weinte und schrie. An ihrem Nachthemd war ebenfalls Blut. Sie weinte, und gleichzeitig war dieses festgefrorene Lächeln in ihrem Gesicht. Unsere Mutter sagte: ›Schatz, tu dir ein Tampon hinein, und dann komm und iss fertig.‹ Meine Schwester schrie: ›Mama, ich versuch dir zu sagen, dass ich vergewaltigt worden bin‹, aber sie, Mama, sagte nur: ›Aber nein, meine Kleine, du hast deine Tage, du wirst jetzt eine Frau.‹ Und meine Schwester sah uns alle an und versuchte ihr Lächeln abzustellen, aber es ging nicht, und sie rannte hinauf in ihr Zimmer. In derselben Nacht hat sie sich die Pulsadern aufgeschnitten. Und wisst ihr, was?«
»Was?«
»Bei ihrer Beerdigung lächelten meine Eltern immer noch. Sie versuchten aufzuhören, aber es ging nicht.«
Collie verstummt.
Peter stößt einen leisen Pfiff aus. »Marcellus?«, fragt er.
»Ja?«
»Geht’s jetzt besser?«
»Wie, bitteschön, soll’s mir bei diesen Drecksgeschichten besser gehen?«
Peter ist aufgestanden, um sich die Beine zu vertreten. Leise atmet er durch die Nase, macht ein paar Liegestützen. Seine Muskeln schmerzen jetzt weniger. Er nimmt einen Schluck modriges Wasser und setzt sich wieder.
»Wer macht weiter? Howard?«
»Hab nix zu sagen. Ich bin ganz normal. Keine Meise wie ihr alle. Ein Justizirrtum hat mich auf die schiefe Bahn gebracht, aber ich komm hier wieder raus, und wenn ihr dann im Todestrakt sitzt, bring ich euch Orangen.«
»Na komm, Howard, mach schon.«
Es knistert im Dunkeln. Zigarettenrauch zieht durch die Schächte. Peters Nasenflügel beben.
»Bist du das,
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