Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
Ich hatte die schreckliche Vorstellung, sie könnte sich wieder aufrichten und sich mit der Schere im Gesicht auf mich stürzen, und wäre eigentlich gern fortgerannt, aber ich blieb sitzen und aß meine Froot Loops. Dann kam mein Vater und sagte: ›O mein Gott‹, aber irgendwie verwischt sagte er das, und daraus schloss ich, dass er sich ebenfalls mit Schlafmitteln vollgestopft hatte.«
Howard zündet seinen erloschenen Zigarettenstummel noch einmal an.
»Im Sommer drauf hab ich mit dem Umbringen angefangen. Von meinem Vater hatte ich einen Karabiner, Kaliber .22 lfB, mit dreifach vergrößerndem Zielfernrohr, und ich verbrachte die Tage draußen auf den Feldern und feuerte auf alles, was sich bewegte. Erst nur auf Vögel und Eichhörnchen. Später knallte ich streunende Katzen ab, auch Hunde.«
»Ich hab sogar mal einen Puma erlegt!«
»Red doch keinen Scheiß, Marcellus.«
»Doch! Ganz bestimmt!«
»Ja, und wieso nicht gleich einen Tiger oder weißen Hai, wenn du schon dabei bist? Du bringst doch grad mal Regenwürmer um. Oder, Ezzie?«
»Also wenn Marcellus sagt, dass er einen Puma gekillt hat, dann glaub ich ihm das.«
»Na gut, vielleicht war’s eine sehr große Katze. Weiß nicht so genau. Es war dunkel.«
»Eine wilde Katze?«
»Sowieso!«
Howard tritt seinen Stummel aus. Peter kratzt sich am Kopf, und Ezzie übernimmt.
»Also ich«, sagt er, »hab nix Besonderes zu erzählen, nur dass ich Uhren mag, die Musik machen, und dass ich meine Oma gekillt habe. Ich kann nicht sagen, dass ich sie mochte, aber gehasst hab ich sie auch nicht. Am Anfang hab ich noch dagegen angekämpft. Ich hab versucht, den Gedanken fortzuschieben, aber er kam immer wieder. Bis ich kapiert habe, dass er mein Freund war, dieser Gedanke. Also hab ich eines Abends meine Oma gekillt.«
Ezzie verstummt. Howard summt vor sich hin. Peter lässt seine Fingergelenke knacken. Collie gähnt. Marcellus scharrt mit den Füßen auf dem Boden. Wendy niest. Diese Geräusche sind wie ein aufflammendes Streichholz in der Dunkelheit. Es knistert, es wärmt einem kurz das Herz, verlöscht wieder.
»He, Leute«, sagt Howard, »wie wär’s, wenn wir einen Pakt schließen?«
VI
Ezechiel Brody
50
Die Sonne brennt vom Himmel. Grelles weißes Licht fällt durch die vergitterten Zellenfenster. Drinnen ist es so heiß, dass etliche nur in Unterhosen sind. Besonders nichtsnutzige Knaben stecken ihre Schwänze zwischen die Gitterstäbe und pfeifen nach den Mädchen auf der anderen Seite des Zellentrakts.
Peter liegt mit nacktem Oberkörper auf seiner Pritsche. Drei Monate ist er jetzt hier. Wie jeden Freitag schiebt der Profos, der den Postboten macht, seinen Karren durch die Flure. Peter schaut einer Fliege nach. Er stellt sich vor, wie aufgeregt einer sein muss, wenn er Quint seinen Namen brüllen hört. Hektische Hände greifen durchs Gitter nach Umschlägen und aufgerissenen Päckchen – denn bevor sie die Post herausrücken, setzen sich Vögte und Profose zusammen und lesen die Briefe und durchwühlen die Päckchen. Es ist jeden Freitag dasselbe. Sie stopfen sich mit Bonbons und Keksen voll, und manchmal hat der Blödmann Quint noch einen schokoverschmierten Mund, wenn er die Post verteilt. Oft klauen sie auch Andenken und behalten die Fotos von Müttern und kleinen Schwestern für sich. Finden sie Mädchenunterwäsche, hinterlassen sie umgekehrt ein Andenken darauf und wischen sich noch den Schwanz damit ab, bevor sie die Sachen ins Päckchen zurücklegen. In der ersten Zeit ihres Aufenthalts hier weinen die Mädchen noch beim Anblick ihrer besudelten Wäsche. Es ist auch schon vorgekommen, dass der eine oder andere Häftling unklugerweise darauf bestand, alles ausgehändigt zu bekommen, was ihm seine Eltern, wie einer auf dem Boden des Päckchens versteckten Liste zu entnehmen ist, geschickt haben. Doch nach einer ordentlichen Abreibung ist jeder zufrieden, wenn er wenigstens seine Briefe erhält. Meist sind sie von Eltern, Tanten, entfernten Verwandten, die in schlichten Worten die trübsinnigen Tage in dem elenden Nest schildern, in dem der Empfänger seine Kindheit verbracht hat. Oft liegt ein miserables Foto von verkommenen Vorgärten und rostfleckigen Wohnwagen vor dem Holzzaun eines Häuschens bei. In der Regel schließen diese Briefe mit Ermahnungen wie: »Werde kein warmer Bruder, sonst wirst du in der Hölle schmoren!«, »Lege nicht zu häufig Hand an dich!« oder, im Fall des Briefs einer Mutter an die Tochter: »Halte dich
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