Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sünden der Faulheit, Die

Sünden der Faulheit, Die

Titel: Sünden der Faulheit, Die Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Peltzer
Vom Netzwerk:
Florence.
    »Mexikanisches Fernsehen«, sagte Mertens.
    »Du weißt es auch nicht?«
    »Ich habe noch nie darüber nachgedacht.«
    Er versuchte, eine Zigarette anzuzünden, doch der Wind blies die Flamme aus, wohin er sich auch drehte.
    »Ich möchte fahren«, sagte Florence.
    »Natürlich, ich will hier nicht überwintern«, antwortete Mertens und schob die Zigarette in die Packung zurück.
    Zwei Jungen bückten sich neben dem Lancia, die Hände wie Trichter vor den Augen.
    »Würd ick ma jerne mit fahren!« rief einer.
    »Beim nächsten Mal«, lachte Mertens und stieg ein.
    »Wohin?«
    »Warst du schon mal auf dem Fernsehturm?«
    »Der am Alexanderplatz?« fragte Florence irritiert.
    »Genau der.«
    »War ich noch nicht.«
    »Dann laß uns doch rauffahren. In der Kugel oben ist ein Restaurant.«
     
    Im Sommer spiegelte sich die Sonne im Fensterrund des Ost-Berliner Fernsehturms in der Form eines Kreuzes, das von morgens bis abends über die Stadt strahlte; jetzt im Winter sah man es kaum, hoch zwischen den Wolken.
    Von der verglasten Aussichtsplattform führte eine Wendeltreppe zum Restaurant. Die Treppe war mit einem lose gespannten Tau gesperrt, daneben hing eine Tafel: »Sie werden plaziert«. Florence sah Mertens fragend an, doch der hob nur entschuldigend Schultern, Mund und Brauen.
    »Wir sind auf dem Gipfel des realen Sozialismus.«
    Florence hatte keinen Sinn für Späße. Sie spürte jene Beklemmung, die sie in der Morgendämmerung oft befiel, und am liebsten wäre sie gleich wieder hinuntergefahren. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, kam eine Hosteß in einem braunroten Kasack, hängte das Tau aus und bat Florence und Wilhelm nach oben.
    »Sie haben eine Stunde, das heißt: eine Umdrehung der Plattform Zeit zum Verzehr«, stand auf der ersten Seite der Speisekarte.
    »Das ist mal ein Wort«, sagte Mertens, nachdem er die Anweisung gelesen hatte.
    »Was meinst du?«
    »Eine Stunde, dann geht’s wieder abwärts.«
     
     
    Valeska Lacan saß in einer Ecke des Wartezimmers und blätterte in einer Lesering-Mappe, als die Tür aufging und ein etwa 40 jähriger Mann erschien.
    »Valeska, kommst du bitte.«
    Sie legte die Illustrierte auf den flachen Tisch zurück und folgte dem Mann in sein Sprechzimmer. Neben, vor und hinter dem gläsernen Schreibtisch waren Akten zu skurrilen Gebirgen gestapelt, ein Metallregal bog sich unter der Last der Gesetzestexte, Kommentare, Vorgänge. Sie ließ sich in einen Sessel fallen. »So geht das wirklich nicht weiter, Jochen!«
    Jochen, der Rechtsanwalt, trug eine Nickelbrille, halblange Haare und einen grünen Breitcordanzug, Modell linksliberal.
    »Zahlt er nicht?«
    »Anfang der Woche hat er’s noch versprochen. Er wollte das Geld gleich überweisen.«
    »Und?«
    »Alles nur Gerede«, sagte Valeska und kramte eine Zigarette aus der Tasche auf ihrem Schoß.
    Der Rechtsanwalt öffnete einen Fensterflügel. Dann ging er zum Regal und zog unter einem Haufen ungeordneter Papiere eine Pfeife hervor, deren kleiner Kopf mit einer Filigranarbeit verziert war.
    »Lohnpfändung entfällt, das weißt du«, sagte er. Die Flamme seines Feuerzeugs züngelte um das bohnengroße schwarze Stück Haschisch, das er schnell zwischen den Fingerspitzen drehte.
    »Man muß doch was unternehmen können!«
    Der Rechtsanwalt sah sie über den Rand seiner Brille an und nahm einen tiefen Zug aus der Purpfeife, und gleich danach noch einen. Mit einem glucksenden Geräusch preßte er den Rauch in seine Lungen.
    »Das Geld steht mir doch zu, völlig klare Rechtslage«, sagte Valeska.
    »Willst du ’nen Zug?« fragte der Mann ruhig. Mit jeder Silbe trat dünner heller Rauch aus seinem Mund. Er wedelte mit dem Fensterflügel kalte Luft ins Zimmer und rückte seine Nickelbrille zurecht, die ein lächerliches Relikt aus lächerlichen Zeiten war.
    »Wir könnten ihn zum Offenbarungseid zwingen.«
    Valeska nahm die Pfeife aus dem Mund und sagte unbewegt: »Wenn’s nicht anders geht.«
     
    Von dort oben blickte man auf die Hauptstadt wie auf das Reißbrett eines Architekten: die Kuppel des Doms und das rote Rathaus, den weitläufigen Alexanderplatz, über den ein eisiger Wind strich, die gigantische Glas- und Stahlkonstruktion der S-Bahn-Halle, die eintönigen Wohnblocks in Fertigbauweise, die sich, Riesenquadern gleich, bis ins Zentrum schoben.
    West-Berlin lag unter graublauen Wolken verborgen, nur einmal sah man kurz die verlorene Fassade des Anhalter Bahnhofs mit dem Trümmergelände

Weitere Kostenlose Bücher