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Sünden der Faulheit, Die

Sünden der Faulheit, Die

Titel: Sünden der Faulheit, Die Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Peltzer
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trostloseste Bahnhof Westeuropas. Schäbige, verdreckte weißlichgelbe Kacheln pflasterten seinen Boden und seine Wände, und auf allen Pfeilern, Fenstern, Tafeln und Schildern klebte fester Staub, der nach dem Willen der Reichsbahnverwaltung dort bleiben sollte bis ans Ende aller Tage. Die Wirklichkeit war brutaler, als die Kritik der Semantik an Klischees ahnt: Frierende bleiche Fixer warteten in den Ecken und Nischen der Halle auf Freier, Asylanten aus Afrika lagerten auf ihren Kisten und Koffern, Kleinkriminelle mit falschen Goldkettchen und protzigen Ringen lungerten in der Stehbierkneipe, Stadtstreicher trieben verschorft und stinkend zwischen den Reisenden, die so schnell wie möglich zu ihrem Bahnsteig eine Etage höher eilten.
     
    An Lacans Handgelenk baumelte die Plastiktüte mit dem Bild. Er schlenderte durch die Halle zur Tafel der An- und Abfahrtszeiten und blieb vor ihr stehen, als suche er einen bestimmten Zug zu einer bestimmten Zeit. Seine Augen rutschten über die Ortsnamen, dabei sah er flüchtig nach hinten, aber niemand nahm Notiz von ihm. Lacan packte das Bild unter den Arm und ging zu den Schließfächern. Unter dem Schild »Gepäckaufbewahrung« schliefen zwei Männer, seltsam ineinander verkeilt. Sie waren mit einem Mantel bedeckt, dessen verblichene Farbe die der Fliesen war. Lacan befiel eine Angst, die nichts mehr mit dem Bild zu tun hatte und nichts mehr damit, gefaßt zu werden. Er legte die Plastiktüte in das erstbeste Schließfach, warf eine Münze ein, zog den Schlüssel ab und rannte zum Ausgang.
     
    Es war noch früh. Lacan fuhr mit seinem Wagen ziellos durch die erwachende Stadt. Auf besonderen Wunsch von Tina aus Britz spielte der Moderator des Vormittagsprogramms Bronski Beat. Lacan summte die Melodie und zerbrach sich den Kopf, woher Mertens wußte, daß er das Bild hatte – wenn nicht von Florence.
    »Your mother will never understand why you had to leeeave« kreischte der Sänger im Falsett. Vor Florence’ Haus sah Lacan ihren Wagen, und nun wurde ihm bewußt, wohin er so ziellos gefahren war. Nachdem er den Block noch einmal umrundet hatte, parkte er hinter dem Lancia. Er kurbelte das Fenster herunter und versank im Sitz.
    Ihn fröstelte. Auf der Rückbank lag ein roter Schal, den wickelte er um seinen Hals, und die Enden stopfte er unter die Revers seiner Jacke. Im Rückspiegel sah man den Hauseingang. Sollte er aussteigen und sie zur Rede stellen? Was hätte er ihr vorwerfen können?
    Ein Mann kreuzte die Fahrbahn und pirschte sich an den Müllkorb, der an einem Lichtmast hing. Lacan wollte seinen Augen nicht trauen, als er die von Lappen umwickelten Schuhe sah, die wie zwei Klumpen an der Hose hingen. Der Mann, der vielleicht in Lacans Alter war, stocherte in den Abfällen. Er öffnete eine Styroporschachtel mit den Resten eines Hamburgers, roch an dem Sesambrötchen und am Hackfleisch, und dann aß er das Zeug aus der Verpackung wie ein Hund aus der Schüssel. Lacan wurde übel. Er suchte den Schlüssel des Schließfachs und ließ ihn durch die Finger gleiten. Nachdem der Mann aufgegessen hatte, steckte er das Styropor in die Manteltasche und setzte die Untersuchung des Müllkorbs fort. Seine Bewegungen wurden hastiger, als habe er etwas Wertvolles gefunden, schließlich zog er zwei Handschuhe heraus und hielt sie vor sein Gesicht. Lacan staunte nicht schlecht, das waren die Handschuhe Roland Hartmanns, die er vor drei Tagen weggeworfen hatte, bevor er Florence besuchte, an jenem Abend, als Steenbergen und Mertens bei ihr waren. Der Mann sah sich um, ob ihn jemand beobachtet hatte, dann streifte er schnell die Handschuhe über und verschwand.
    Wilhelm Mertens und Florence Blumenfeldt tauchten im Rückspiegel auf. Sie standen auf der Schwelle des Hauses, und Florence redete auf Mertens ein. Sie faßte ihn bei der Schulter, um ihn zu zwingen, sie anzusehen, doch Mertens trat einen Schritt vor und fuchtelte mit den Händen, was gar nicht zu ihm paßte. Florence wollte ihn beruhigen, aber er riß sich mit einer herrischen Geste los und ging zu ihrem Wagen. Florence kam ihm nach, legte einen Finger auf ihren Mund, und sie fuhren los.
    Lacan sackte noch tiefer in den Sitz. Einmal, zweimal, dreimal startete er den Opel, bis er endlich ansprang; an der übernächsten Ampel hatte er sie wieder eingeholt. Sie fuhren nach Norden, vorbei am sowjetischen Ehrenmal und am kuppellosen Reichstagsgebäude vor der Mauer. Über dem weiten Platz der Republik lag ein Nebelschleier. An

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