Sünden der Nacht
Schädel!«
Jessie begann zu weinen. Mitch schaffte es gleichzeitig, sie zu trösten und Paige grimmig anzustarren. »Wenn ich rausfinde, wer diese Information hat durchsickern lassen, tret ich ihm so in den Arsch, daß er in die Mitte der nächsten Woche fliegt«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Und ab dann werde ich richtig gemein!«
Paige sagte nichts, spielte die Gelassene, obwohl sie innerlich 295
vor der Wut zitterte, die sich in Mitch Holts Gesicht
abzeichnete. Als er mit seiner Tochter davonstolzierte, nahm Garcia seine Kamera wie ein Baby in den Arm und beugte sich mit Verschwörermiene zu ihr.
»Scheiße, der Typ ist vielleicht jähzornig. Erinner mich dran, daß ich mich hier nie einer Verhaftung widersetze.«
21 Uhr 05, -7 Grad
Joy Strauss brummte vorwurfsvoll, als sie Jessies Mantel in den Garderobenschrank hängte. »Genau das hab ich befürchtet«, murmelte sie gerade so laut, daß Mitch es hören konnte.
Rachsüchtig starrte er den Hinterkopf seiner Schwiegermutter an. Er war jetzt wirklich nicht in der Stimmung, sich Joys Sticheleien anzuhören. Joy war eine schlanke graziöse Frau, auf gewisse Weise attraktiv, wenn ihr Mund nicht diesen
mißmutigen Zug aufwiese. Ihr braunes Haar war von Silber durchzogen und sie trug es glatt geschnitten, eine zeitlose Frisur.
Auch ihre Kleidung bewegte sich in einem langweiligen Stil, auf den zur Schau gestellten Pessimismus abgestimmt.
»Diese Entführung hat sie total verängstigt«, fuhr sie fort und schüttelte den Kopf, als die Schranktür schloß. »Es ist ein Wunder, daß sie überhaupt noch schlafen kann. Verrückte, die frei auf den Straßen herumlungern und Kinder von der Straße wegfangen!«
Mitch drückte Jessie fest an sich und warf Joy einen warnenden Blick zu. »Es ist ein Vorfall, Joy, und keine Epidemie«, flüsterte er. »Jessie ist nur müde, stimmt’s, Schätzchen?«
Jessie nickte.
Joy streckte die Arme aus. »Na, dann komm mal zu Oma,
Jessie. Wir gehn jetzt ins Bett.«
»Ich bring sie rauf«, keifte Mitch. Joy schniefte vorwurfsvoll, 296
bedrängte ihn aber nicht weiter. Sie schnalzte mit der Zunge und ging ins Wohnzimmer, wo Washington Week im Fernsehen vor sich hin flimmerte und Jurgen in ein Buch vertieft war.
Mitch trug Jessie in ihr Zimmer und half ihr, das Nachthemd überzustreifen. Dabei plapperte er über die Snowdaze-Veranstaltungen am Wochenende und wieviel Spaß sie mit ihren Großeltern haben würde.
Vielleicht würde Opa mit ihr die Eisskulpturen im Park anschaun gehen oder zum Schneebowling mit Menschen als Kegeln. Vielleicht könnten sie eine Schlittenfahrt machen. Oma hatte Karten fürs Eiskunstlaufen. Wär das nicht ein Spaß?
Jessie steuerte nichts zur Konversation bei. Sie wusch sich brav das Gesicht, putzte sich die Zähne und kletterte in das Bett, das Mitch für sie aufgeschlagen hatte.
»So, nun sag schön dein Gebet«, er gab ihr eine Kuß auf die Stirn.
Jessie wand ihm ihr Gesicht zu, ihre großen, braunen Augen flossen über vor Tränen. Sie schluchzte: »Daddy, ich fürchte mich.«
Mitch hielt den Atem an. »Wovor fürchtest du dich denn, Schatz?«
»Ich hab Angst, daß der böse Mann mich auch holt!«
Sie krabbelte auf seinen Schoß, als die Tränen hervorstürzten.
Mitch nahm sie in die Arme und hielt sie fest. »Keiner wird dich holen, Süßes.«
»A-aber jemand hat J-Josh geh-holt! Oma sagt, es kann jeden Tag passieren!«
»Nein, kann es nicht«, Mitch wiegte sie hin und her. »Keiner wird dich holen, Schätzchen. Weißt du noch, wie wir über gefährliche Fremde geredet haben und daß du weglaufen sollst, wenn du vor jemandem Angst hast?«
»Aber sie h-haben Josh mitgenommen, und er ist ein großer 297
Junge. Ich bin nur klein!«
Mitch zerriß es fast das Herz. Er zog Jessies Kopf wieder an seine Brust und schaukelte sie fester, rang heftig mit der eigenen Fassung. »Keiner wird dich holen, Baby. Das laß ich nicht zu.«
Er würde sie vor allem bewahren.
So, wie er ihren Bruder vor allem bewahrt hatte? Der Gedanke bohrte sich wie ein Messer, ein Stilett, tief durch Fleisch und Knochen in seine Seele. Er biß sich auf die Lippe, bis er Blut schmeckte, kniff die Augen zusammen, bis sie brannten. Fest umklammerte er seine Tochter, in dem Bewußtsein, sein
einziges Kind mehr zu haben, weil er ihren Bruder nicht vor allem hatte schützen können. Egal wieviel Mühe er sich gäbe, egal, wie fest er davon überzeugt wäre von seinen Verdiensten –
es gab keine absoluten
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