Sünden der Nacht
Lange blieb sie im Wagen auf dem Parkplatz sitzen, starrte auf Olies verbeulten Van, ging alle Möglichkeiten durch, und Furcht regte sich in ihr.
Eine Ahnung, noch sehr vage, außer Reichweite, kitzelte sie wie ein Insektenstich, an den sie nicht herankam. Und ganz hinten in ihrem Kopf hörte sie gleichsam Joshs Stimme, wie er die Zeile aus seinem Notizbuch las: Die Kinder hänseln Olie, aber das ist gemein. Er kann doch nichts dafür, wie er aussieht.
Aus der Halle ertönte Musik über die Lautsprecher – Mariah Careys ›Hero‹. Die Sitzreihen waren leer und dunkel, Lichter schienen auf das Eis, wo ein einsamer Schlittschuhläufer seine Kreise zog. Er bewegte sich in perfekter Harmonie mit dem fließenden, wunderschönen Lied. Megan ging zur Teambank und setzte sich auf einen Platz bei der roten Linie.
Der Schlittschuhläufer war eine junge Frau, blond, zierlich, aber athletisch. Sie trug schwarze Leggins, einen violetten Eislaufrock und einen lockeren cremefarbenen Pullover, völlig versunken in die Musik und in ihre Arm- und Beinarbeit. Jede Bewegung wurde perfekt gehalten, bis sie in die nächste überging. Ihre Sprünge waren graziös, kraftvoll, so weich aufgesetzt, daß sie die Gesetze der Physik Lügen straften. Die Musik schwoll an, stieg gen Himmel, wurde wieder leiser. Die Schlittschuhläuferin erhob sich zu einer letzten Pirouette, wie eine Ballerina auf einer Spieldose.
Megan applaudierte und lenkte damit zum ersten Mal die Aufmerksamkeit der Läuferin auf sich. Sie lächelte und winkte zum Dank für den Applaus, dann lief sie auf sie zu, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Das war wunderbar«, lobte Megan.
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Sie rang heftig nach Luft, schaffte es aber kurz, die Schultern zu heben. »Ich muß noch dran arbeiten, aber danke. Könnten Sie mir die Wasserflasche geben?«
Megan nahm eine Wasserflasche von der Spielerbank und
reichte sie ihr. »Ich bin Megan O’Malley vom BCA.«
»Ciji Swensen.« Sie zog ein Handtuch von der Bande und tupfte sich Lippen und Stirn ab, ihre dunkelblauen Augen waren auf Megan gerichtet. »Sie standen in der Zeitung. Sind Sie wegen der Entführung hier? Dr. Garrison tut mir so leid.«
»Kennen Sie Josh?«
»Klar. Ich kenne praktisch jeden in der Stadt, der ein Paar Schlittschuhe schnüren kann. Ich bin Lehrerin im
Schlittschuhclub.«
»Machen Sie heute Überstunden?«
»Ich übe. Der Club studiert jedes Jahr eine kleine Show für den Snowdaze ein. Das ist eine meiner Nummern. Ich wußte, daß heute abend alle bei der Parade sind, also dachte ich mir, ich nutze die leere Eisfläche aus. Es ist eine ganz spezielle Nummer
– für Josh, wissen Sie. Der Club hat dafür gestimmt, die Einnahmen der Freiwilligenzentrale zu stiften.«
»Das ist sehr großzügig.«
»Ja, also wir mußten doch etwas machen. Mir wird übel bei dem Gedanken, daß irgendein Perversling Josh direkt von dieser Arena entführt hat. Wenn ich’s recht überlege, bin ich womöglich direkt hier gestanden, als es passierte.«
»Sie waren an diesem Abend hier?«
Ciji nickte und trank noch einen Schluck Wasser. »Ich hatte um sieben eine Klasse.«
Eine männliche Stimme rief aus der Dunkelheit im hinteren Teil der Arena. »Willst du die Musik noch mal, Ciji?«
»Nein danke, Olie«, rief sie zurück. »Ich mach eine Pause.«
Megan starrte in die Schatten und konnte gerade Olie Swains 289
Kopf und Schultern ausmachen. »Haben Sie Olie an diesem Abend gesehen?«
»Ja, klar. Olie ist hier immer irgendwo.«
»Hat er das Eis frisch gefegt, bevor Ihre Klasse anfing?«
Sie nickte. »Er hat es gleich, nachdem die Zwerge mit ihrem Training fertig waren, gemacht.«
»Wann war das?«
»Viertel nach fünf, halb sechs.« Cijis zarte Augenbrauen zogen sich besorgt zusammen. »Hören Sie, ich weiß, daß es Leute in der Stadt gibt, die Olie für schuldig halten, aber er ist kein schlechter Mensch, nur ein bißchen seltsam. Ich meine, er ist eigentlich ganz süß, wissen Sie? Den Kindern gegenüber hat er sich nie unziemlich benommen, soviel ich weiß.«
»Haben Sie ihn auch später an diesem Abend gesehen?«
»Klar. Er hat vor den Senioren um acht noch mal das Eis präpariert.«
Womit einige Stunde blieben, in denen er alles mögliche hätte tun können, auch Josh Kirkwood entführen.
Ciji stellte ihr Glas ab und wand sich das Handtuch um die Hände. »Sie glauben doch nicht wirklich, daß er es war, oder?«
»Wir versuchen nur eine Chronologie der Ereignisse von Mittwoch abend
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