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Sünden der Nacht

Sünden der Nacht

Titel: Sünden der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tami Hoag
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wieder zum Fenster. »Ich werde den Gedanken nicht los, daß ich das hätte verhindern, es hätte ahnen müssen, vorher etwas dagegen unternehmen.« Sein Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln. »Der Refrain meines Lebens.«
    Megan stellte keine Fragen. Sie würde nicht betteln und es ihm entlocken. Er würde es ihr erzählen, weil er das Bedürfnis dazu verspürte, oder sie würden die ganze Nacht hier stumm stehen bleiben.
    »Ich hatte einen Sohn«, sagte er schließlich. »Kyle. Er war sechs Jahre alt.«
    Megan erstickte fast an dem Kloß in ihrem Hals.
    »Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort.« Er schüttelte den Kopf. »Warum sagen wir das immer? Sie waren nicht am falschen Ort. Meine Frau und mein Sohn sind in den Laden gegangen, um Milch und Brot zu kaufen. Der Junkie mit der 303
    abgesägten Flinte war am falschen Ort. Aber ich hab sie dorthin geschickt, und zu was macht mich das?«
    Zum Opfer, dachte Megan, obwohl sie wußte, daß seine
    Antwort ›schuldig‹ lauten würde. Kein Gericht der Welt hätte ihn je verurteilt, aber er selbst hatte kein Erbarmen mit sich und würde für den Rest seines Lebens büßen. Was für eine verdrehte Gesellschaft das doch war, in der ein guter Mann permanent bezahlen mußte für ein oder zwei Worte, für etwas so Einfaches wie die Entscheidung, wer einkaufen sollte – während ein Killer keine Reue empfand, keine Sekunde lang litt um die Leben, die er zerstört hatte.
    »Er hat sie einfach über den Haufen geschossen«, flüsterte er,
    »als wären sie aus Pappe.«
    Er sah sie immer noch, wie sie blutüberströmt auf dem
    dreckigen Linoleumboden lagen, ihr Leben ausgehaucht. Die Körper mit verrenkten Gliedern, wie weggeworfene Puppen; die Augen weit offen, starrten sie ihn mit dem hoffnungslosen Blick der Toten an. Allison hatte einen Arm zu ihrem Sohn
    ausgestreckt. Kyle, knapp außer Reichweite, seine zu große Baseballuniform braun getränkt von seinem Blut, in einer Hand ein Päckchen Baseballkarten. Dieses fröhliche junge Leben ausgemerzt, vergeudet, achtlos wie eine leere Dose fallen gelassen.
    »Ich hab den Notruf im Funk gehört«, sagte er. »Und ich hab es gewußt, einfach gewußt, noch bevor ich Allisons Wagen auf dem Parkplatz sah.«
    Dann hatten die Selbstbezichtungen angefangen, so wie jetzt.
    Gnadenlos. Brutal. Unausweichlich. Und die Fragen hatten begonnen so wie jetzt, und der Zorn hatte sich dahinter aufgestaut, war ständig gewachsen. Er arbeitete so schwer für das Recht, für Gerechtigkeit, befolgte die Regeln, hatte Prinzipien, war ein braver Mensch, ein guter Cop. Belohnung hätte er verdient, und statt dessen war der kostbarste Teil seines Daseins ihm gewalttätig entrissen worden.
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    »Einhundertneunundsechzig Dollar«, sagte er, den Blick immer noch in die Nacht gerichtet. »Das hat der Gangster dabei rausgeholt. Einhundertneunundsechzig Dollar für zwei Leben.«
    Unter seinen geschlossenen Lidern rollte eine einzelne Träne seine Wange hinab. Er war ein stolzer, harter Mann, aber der Schmerz und die Verwirrung zerbrachen ihn. Als glaubte er an Recht und Unrecht, Schwarz und Weiß, aber seine Welt hatte sich in einen schummrigen Ort voller Rauch und Zerrbildern verwandelt. Megan konnte sie in seiner Stimme hören – die Verzweiflung eines Mannes, der versuchte, Sinn im Sinnlosen zu erkennen.
    Es mußte unerträglich sein, einen Partner geliebt zu haben, ein Kind gezeugt, es aufgezogen und für dieses Kind gehofft zu haben – und dann beide zu verlieren. Besser, wenigstens geliebt und verloren zu haben, sagte das Sprichwort, aber Megan glaubte das nicht. Besser gar nicht erst zu lieben, als das Herz mit Stumpf und Stiel ausgerissen zu bekommen.
    »Ich denke an Hannah und Paul«, druckste er. »Diesen
    Schmerz würde ich meinem ärgsten Feind nicht wünschen.«
    Das Bedürfnis ihn zu trösten übermannte Megan, ihre Arme glitten in seine Jacke, umfingen seine schmale Taille, und sie legte ihre Wange an seine Brust. »Wir werden ihn finden. Ganz bestimmt.«
    Er wollte ihre Zuversicht in sich aufsaugen und umarmte sie, drückte sie fest an sich, dachte nicht an ihre Prinzipien gegen Cops. Sie waren jetzt keine Polizisten. Er hatte alles ausgeblendet, bis auf eine Grundwahrheit – ein Mann und eine Frau, zwischen denen das Knistern heiß und zwingend war, fordern, den Rest der Welt auszuschließen. Er hatte nicht die Absicht, dieser Versuchung zu widerstehen. Heute nacht wollte er nur eins – ein Mann ohne Vergangenheit und ohne

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