Sünden der Nacht
daß sie die Hürde für Frauen im Außendienst gemeistert hatte.
Sie lag im Bett, betrachtete sich im Spiegel über dem
Toilettentisch, und dachte darüber nach, daß manche Leute sie als Heldin empfanden und andere als Unruhestifterin. Irgendwie tangierte sie das aber kaum, so als wäre die Megan O’Malley, die diese Leute sahen, nur ein Hologramm. Sie wollte weder ihr Champion noch ihr Dämon sein, sondern ihren Job machen und Josh finden.
Verkatert von Müdigkeit und Muskelentspannungsmitteln
347
schleppte sie sich aus dem Bett in die Dusche. Für ihr Treffen mit DePalma zog sie das an, was sie noch schnell vor der Abfahrt ins Auto geworfen hatte – eine enge, anthrazitfarbene Hose und einen weichen, schwarzen Rollkragenpullover, der ihre Blässe und die dunklen Ringe unter ihren Augen betonte.
Sie fand, sie sah aus wie ein Zombie oder ein Ostblock-flüchtling, aber was Besseres konnte sie leider nicht bieten.
Sie träumte von einem FBI-Auftrag in Tampa, während sie den Reißverschluß ihres Parkas zuzog, sich Ohrenschützer aufsetzte und ihren Schal um Kopf und Hals wand. Florida leuchtete wie eine Fata Morgana vor ihrem inneren Auge, die sich sofort in nichts auflöste, als sie vor die Tür trat und der Wind wie ein Ziegelstein gegen ihre Stirn prallte. Nicht weniger als ein Dutzend Autos auf dem Parkplatz standen mit offener Motorhaube da – die weiße Fahne des Nordens – und warteten, daß die Werkstattwagen auftauchten und die leeren Batterien überbrückten. Zwei Minuten später öffnete Megan die Haube des Lumina und stapfte zurück ins Hotel. Unterwegs murmelte sie ihr Mantra für kaltes Wetter: »Ich hasse Winter.«
9 Uhr, -28 Grad, Windabkühlungsfaktor: -49 Grad
DePalma lief hinter seinem Schreibtisch auf und ab, mit hochgezogenen Schultern und die Hände in die Hüften
gestemmt. Er sah aus wie Nixon, der sich als Imitator von Ed Sullivan versucht.
»Wir hatten noch nie so viele Anrufe von der Presse«, er wiegte bedenklich seinen Kopf.
»Ich bin eine Kuriosität«, klärte Megan ihn auf. Sie stand ihm gegenüber auf der anderen Seite des Schreibtischs. Er hatte ihr keinen Platz angeboten. Schlechtes Zeichen. »Sie werden drüber wegkommen. Tun Sie einfach so, als wär ich ein ganz normaler Agent, was ja auch stimmt. Sie sollten sich auf Josh
348
konzentrieren, nicht auf mich.«
»Es fiel schwer, Sie zu ignorieren, als Sie den Vater vor der ganzen Presse verhörten.«
»Ich habe ihm ein paar Fragen gestellt. Er ist sauer geworden, mehr war nicht.«
DePalma drehte sich fassungslos zu ihr um. »Mehr war nicht?
Megan, der Mann hat seinen Sohn verloren …«
»Er hat mir absichtlich Informationen vorenthalten! Der Mann verheimlicht etwas. Was bitte soll ich denn tun – mich wie eine Dame verhalten und den Mund halten, oder wie ein Cop
auftreten und gründlich recherchieren?«
»So was macht man nicht, wenn die Presse in Hörweite ist, und das wissen Sie verdammt gut.«
Megan klappte den Mund zu. Da konnte sie sich nicht
rauswinden.
Das mit Paul Kirkwood hatte sie vermasselt. Sie hätte gerne auf Pauls Versäumnis beharrt, aber im richtigen Leben
funktionierte es eben nicht so. Laß dir nichts gefallen, mach keine Ausflüchte. Sie hätte das Potential für Ärger erkennen müssen, aber ihr Jähzorn hatte sie ausgetrickst. Einem guten Agenten passierte so was nicht.
»Ja, Sir«, murmelte sie.
DePalma setzte sich seufzend in seinen hohen Lehnstuhl. »Ob es Ihnen nun gefällt, Agent O’Malley, oder nicht, auf Sie und diesen Fall ist eine ganz große Lupe gerichtet. Passen Sie auf, wo Sie hintreten, und hüten Sie Ihr Mundwerk. Sie sind ein guter Cop, aber keiner könnte Ihnen übertriebene Diplomatie vorwerfen.«
»Ja, Sir.«
»Und bringen Sie um Himmels willen diese Geschichte mit der sexuellen Belästigung vom letzten Herbst nicht wieder aufs Tapet. Der Superintendent bekam fast einen Herzanfall …«
349
»Das ist unfair«, wehrte sich Megan. »Das hab ich nicht aufs Tapet gebracht. Es kam nicht von mir. Henry Foster hat diese Dose mit Würmern von sich aus aufgemacht …«
DePalma winkte ab. »Das spielt keine Rolle. Wir werden alle aufs Korn genommen. Wenn Sie den Druck nicht aushalten, hab ich keine andere Wahl, als Sie in den Innendienst abzuberufen.«
Er ließ das einen Augenblick einwirken, während er sich eine Halbbrille aufsetzte und einen Blick auf das oberste Blatt Papier eines Berges von Akten warf, die ordentlich neben der
makellosen Schreibunterlage
Weitere Kostenlose Bücher