Sünden der Nacht
oder Empathie und Freundschaft zu bekunden, aber sie wollte nichts mit ihnen gemein haben. Es verlangte sie nicht danach, sich diesem Club anzuschließen.
»Ihr Mann ist im Fernsehen«, sagte Terry Wieauchimmer, als sie die Tasse mit dem Kakao auf den Nachttisch stellte. »Ich dachte, das interessiert Sie vielleicht.«
Hannah schüttelte den Kopf. Terry sagte nichts. Sie blieb mit 395
dem Rücken an der Wand neben der Tür stehen, die Hände in den Taschen ihrer beigen Cordsamthose. Wartete. Hannah redete sich ein, sie wollte nichts mit dieser Frau zu tun haben; sie wehrte sich vergeblich gegen die, wie es ihr schien, erwartungsvolle Pause.
»Ich wurde gebeten aufzutreten«, sagte sie und starrte durch das Fenster hinaus in die kalte schwarze Nacht, »aber damit habe ich nichts zu tun. Ich werde das, was ich fühle, nicht vor einem Publikum zur Schau stellen.«
Die Frau sagte gar nichts, als ahne sie irgendwie, daß da noch mehr kommen würde. Die Worte sprudelten aus ihr wie eine Art Beichte.
»Die Leute erwarten das von mir. Ich weiß, daß sie das tun.
Sie erwarten, daß ich bei den Versammlungen und bei den Gebetswachen und im Fernsehen dabei bin. Aber ich möchte vor ihnen nicht schwach sein und weiß, daß ich nicht stark bleibe.
Ich kann nicht vorbildlich sein, nicht jetzt.« Und die Schuldgefühle in dieser Hinsicht waren noch eine weitere Last zu der, die bereits drohte sie zu zermalmen.
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Terry unerschütterlich.
»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber, was andere von Ihnen wollen. Sie brauchen nicht im Fernsehen aufzutreten, wenn Ihnen nicht wohl dabei ist. Wir alle machen jeweils das, was wir für richtig halten, um diesen Alptraum zu überstehen.
Vielleicht hilft Ihrem Mann der Auftritt im Fernsehen.«
»Das kann ich nicht beurteilen.«
Wieder Schweigen.
»In letzter Zeit haben wir Verständigungsschwierigkeiten.«
»Es ist auch hart, Sie tun Ihr Bestes. Klammern Sie sich an die Bruchstücke Ihrer Beziehung, und zerbrechen Sie sich später den Kopf darüber, wie Sie sie wieder zusammensetzen können.
Jetzt ist nur eins wichtig, nämlich das Durchhalten.«
396
Hannahs Blick wanderte zu dem Fotoalbum auf dem Tisch, den lächelnden Bildern von ihrem Sohn. Sie hätte alles getan, alles gegeben, um ihn sicher zurückzuhaben. Olie Swain fiel ihr ein, der in seiner Gefängniszelle saß, die Geheimnisse, die er erst noch enthüllen würde, und wieder packte sie dieses unerträgliche Gefühl von Erwartung. Was wußte er? Was würde er erzählen? Und wenn er mit der Sprache herausrückte, wäre dann alles vorbei?
»Es ist diese Ungewißheit«, flüsterte sie und drückte die Handballen vor die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Sie kamen trotzdem.
»Mein Gott, ich kann diese Ungewißheit nicht ertragen! Ich kann nicht mehr!«
Sie warf sich schluchzend an die Wand und schlug immer wieder mit der Faust dagegen, ohne Rücksicht auf dem
Schmerz. Als der kurze Adrenalinstrom versiegt war, blieb sie einfach stehen, drückte sich gegen das sorgsam geklebte Wandbild von baseballspielenden Buben und weinte. Sie
bewegte sich nicht, als sie die Hand auf ihrer Schulter spürte.
»Ich weiß«, murmelte Terry. »Mein Sohn wurde entführt, als er zwölf war, auf dem Heimweg vom Kino. Wir lebten damals in Idaho, in einer Stadt ganz ähnlich wie diese, ein ruhiger, sicherer Ort. Nicht ganz sicher, wie sich herausstellte. Ich dachte, die Ungewißheit würde mich umbringen. Und es gab Zeiten, in denen ich wünschte, sie hätten es getan.«
Sie zog Hannah behutsam von der Wand weg, führte sie zu einem der Betten und setzte sich mit ihr. Hannah wischte sich das Gesicht mit dem Pulloverärmel ab und versuchte sich zusammenzureißen, beschämt, weil sie vor einer Fremden die Fassung verloren hatte. Aber Terry verhielt sich, als wäre das alles ganz normal, als hätte sie den Ausbruch nicht bemerkt.
»Er wäre heuer sechzehn geworden«, sagte sie. »Er würde Auto fahren lernen, sich mit Mädchen verabreden, in der Schule 397
im Basketballteam spielen. Aber der Mann, der ihn uns
weggenommen hat, hat ihn für immer ausgelöscht. Sie haben seine Leiche auf einem Schutthaufen gefunden, weggeworfen wie Müll.« Ihre Stimme überschlug sich, und sie verstummte für einen Augenblick, wartete, bis der Schmerz verebbt war.
»Nachdem sie ihn gefunden hatten, war es … wie eine
Erlösung. Aber als wir es noch nicht wußten, hatten wir wenigstens noch die Hoffnung, daß er
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