Sünden der Nacht
aufgestaut, daß sie überzeugt war, sie würde von dem Druck bald explodieren. Aber es gab keine Explosion und keine Erleichterung. Sie lief im Zimmer auf und ab, die Arme fest um sich geschlungen.
Selbst mit dem dicken Sweatshirt und dem
Rollenkragenpullover, die sie trug, fühlte sie sich dünn. Sie nahm ständig ab, und als Ärztin wußte sie, daß das nicht gut war. Der professionelle, intelligente Teil ihres Verstandes befahl ihr zu essen, zu schlafen, sich etwas Bewegung zu verschaffen, aber dieser Teil hatte seine Stimme eingebüßt. Gefühle regierten, unberechenbare, irrationale Gefühle. Sie versuchte sich vorzustellen, wie das gewesen war – wie sie gewesen war –, als diese ruhige vernünftige Leiterin der Notaufnahme! Eiskalt unter Beschuß. Eine Autorität. Der Mensch, an den sich in einer Krise alle wandten. Sie versuchte sich an den Nachmittag vor Joshs Entführung zu erinnern. Die Patienten, die sie behandelt hatte. Die Menschen, denen sie Trost gespendet und
Erklärungen gegeben hatte. Die Präzision des Unfallteams, als 393
sie die Bemühungen um Ida Bergen koordiniert hatte.
Eine Woche war vergangen, eine entsetzliche Ewigkeit.
Vergnügtes Gequietsche war aus dem Wohnzimmer zu hören, wo Lily den BCA-Agenten mit ihrem Charme dazu gebracht hatte, mit ihr zu spielen. Hannah schloß die Tür, hier in Joshs Zimmer brauchte sie nichts zu hören als die Stille, die auf seine Stimme wartete. Sie atmete den wächsernen Geruch von
Malstiften ein und fühlte sich, als hätte man ihr einen davon ins Herz gebohrt. Auf dem kleinen Schreibtisch lag das Fotoalbum, das sie an einem der ersten Tage hier aufgeschlagen hatte, als könnte die Anwesenheit von Joshs Bild ihn selbst
herbeizaubern. Sie stützte ihre Hände auf und betrachtete die Fotografien, jede einzelne weckte eine Erinnerung.
Sie drei am Strand von Carolina in dem Sommer, als sie ihre Eltern besucht hatten. Das Jahr, bevor Lily zur Welt kam. Josh auf den Schultern seines Vaters, die Arme um Pauls Stirn geschlungen. Josh, wie er in T-Shirt und weiten Shorts neben einer Sandburg stand, die Arme ausgebreitet und sein breites Grinsen, das seine Lücken der ausgefallenen Milchzähne zeigte.
Sein Haar war ein Gewirr von hellbraunen Locken, zerzaust vom selben Wind, der die schlanken Stiele der Gräser auf den Dünen bog, der Ozean dahinter ein blauer Gürtel, mit weißer Spitze verbrämt.
Sie drei, wie sie zusammen auf einem Pier standen. Alle lachten. Hannah trug ein durchsichtiges, blauweißes
Sommerkleid. Der lange Rock umspielte ihre Beine wie das Cape eines Matadors. Josh stand an einem Anlegepfosten. Paul hatte von hinten einen Arm um ihn gelegt und drückte ihn fest an sich, den anderen Arm um Hannahs Schulter drapiert. Hielt sie alle zusammen. Eine Familie. So eng verbunden, so
glücklich. So weit weg. So fern von dem, was aus ihnen geworden war.
Auf dem letzten Bild der Seite saßen sie und Josh an Bord eines Segelboots bei Sonnenuntergang. Er schlief auf ihrem 394
Schoß, und ihre Arme umfingen ihn schützend. Sie beugte sich mit geschlossenen Augen über ihn. Ihr Haar wehte im Wind. Sie hielt ihn sicher umarmt, während die See wogte und der Wind die Segel peitschte. Sicher und geliebt.
Sie konnte die Augen schließen und sein Gewicht in ihren Armen fühlen. Sein kleiner Körper so warm an ihrem. Sein Haar roch nach Salzwasser. Seine unglaublich langen Wimpern, ihr Schwung auf seiner Wange. Und sie fühlte, wie die Liebe zu ihm in ihrer Brust schwoll. Ihr Kind. Ein bildschönes kleines Geschöpf; in Liebe geschaffen und aufgezogen. Und sie fühlte genau wie in dem damaligen Augenblick all die Hoffnungen, die sie für ihn hegte, all die Träume um sein Gedeihen. Perfekte Träume. Wunderbare Träume.
Träume, die man ihr entrissen hatte. Josh war weg. Sie wirbelte herum, als eine weitere Freiwillige von der Gruppe Verschwundener Kinder den Kopf ins Zimmer steckte. Noch eine Fremde aus einer anderen Stadt, von der sie noch nie gehört hatte.
»Ich hab Ihnen eine heiße Schokolade gebracht«, sagte die Frau leise und nutzte die Ausrede, um das Zimmer zu betreten.
Hannah schätzte sie auf etwa vierzig, mittelgroß mit runden Hüften und flachem Busen. Ihre Haare waren eine formlose Masse aus kastanienbraunen Locken, die über ihre randlose Brille baumelten. Terry irgendwas. Die Namen drangen in ein Ohr hinein und zum anderen hinaus. Hannah gab sich keine Mühe, sie sich zu merken. Sie kamen, um ihr Unterstützung, Mitgefühl
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