Sünden der Nacht
würde.
Megan wußte nur allzugut, daß all ihre Bemühungen
möglicherweise nichts fruchteten, daß Joshs Schicksal, gleichgültig wie viele Menschen halfen, hofften und beteten, letztendlich in der Hand eines Wahnsinnigen lag, und daß ein Spaziergang durch ein Labyrinth mit Augenblende im Vergleich zur Suche nach Josh ein Kinderspiel war.
Trotzdem richtete es einen auf, daß Leute Anteil nahmen.
»Wenn ich sehe, wie eine Gemeinschaft so zusammenhält, könnte ich fast meinen Glauben an die Menschheit
wiederfinden«, bemerkte sie.
Priest sah sich die Menge an, wobei er längst nicht so begeistert aussah wie vorhin, als er den Computer erklärte.
»Deer Lake ist eine nette Stadt voller netter Leute. Jeder kennt 251
und liebt Hannah. Sie gibt dem Ort soviel.«
»Und wie steht’s mit Paul? Kennt und liebt ihn auch jeder?«
Er hob die Schultern. »Jeder muß mal zum Doktor, aber zum Steuerberater müssen nicht so viele Leute. Paul ist weniger sichtbar. Aber die meisten von uns schnitten wohl neben Hannah nicht so gut ab.«
Jetzt war Paul der sichtbarere von beiden, dachte Megan und dabei entging ihr die leichte Röte, die dem Professor bis zu den Haarwurzeln schoß, als er Hannahs Namen erwähnte. Paul schob sein Gesicht vor die Kamera, wann immer sich
Gelegenheit dazu bot, während Hannah zu Hausarrest verurteilt war.
»Ich glaube, daß die Leute im Sinne von Verteidigung sich zu Gruppen versammeln.«
Megan nippte an ihrem Cider und warf einen Blick auf den Mann, der sich zu ihnen gesellt hatte. Er war etwa so groß wie der Professor, um die einssiebzig – und besaß eine ähnliche Figur, schlank, fast schmächtig. Der Neuankömmling hatte blondes, modisch geschnittenes Haar und ein attraktives Gesicht. Fein modelliert, fast feminin, mit großen dunklen Augen, die etwas schläfrig schienen. Hübsch wäre wohl das passende Wort. Er trug eine graue Flanellhose und einen offensichtlich teuren blauen Wollmantel über dem Marinepullover.
»Eine instinktive Reaktion des Herdentriebs«, sagte er. »Kraft und Sicherheit durch Vielzahl. Sich zusammenrotten, um ein Raubtier abzuwehren.«
»Klingt, als wären Sie ein Experte«, sagte Megan.
»Ich kann nicht behaupten, daß ich sehr viel direkte Erfahrung mit dieser Art von Situation habe, aber Psychologie ist sozusagen mein Fach. Dr. Garrett Wright«, stellte er sich vor,
»Dozent in Harris.«
»Megan O’Malley, BCA.«
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»Ich würde ja sagen, es ist mir ein Vergnügen, aber das paßt hier wohl nicht«, er steckte seine Hände in die Manteltaschen.
Megan quittierte das mit einem kurzen Nicken. »Sind Sie gekommen, um Ihre Dienste anzubieten, Doktor? Wir können ein paar Ideen über den Geisteszustand der Person brauchen, die Josh entführt hat.«
Wright runzelte die Stirn und wiegte sich in seinen schwarzen Ledergaloschen vor und zurück. »Eigentlich bin ich hier, weil ich Chris um die Schlüssel für seine Aktenschränke bitten wollte. Einige von unseren Studenten arbeiten an einem gemeinsamen Projekt. Wenn wir schon dabei sind, sollte ich wohl auch den Schlüssel zu deinem Büro haben, wenn du
morgen rüber zum Gustavus-Adolphus-College fährst«, wandte er sich an Priest.
Priest stellte seinen Cider beiseite, kramte einen Ring, der vor Schlüsseln klapperte, aus seiner Tasche und machte sich daran, diejenigen für seinen Kollegen auszusortieren.
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen«, sagte Wright zu Megan. »Hannah und Paul sind Nachbarn von mir. Es ist mir von Herzen zuwider, daß sie so etwas durchmachen müssen.
Meine Frau steht Hannah zur Seite, sie ist die Abgeordnete unseres Haushalts.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe asoziales Verhalten studiert, aber habe keinen Abschluß in Kriminologie.
Mein Fachgebiet ist Lernen und Auffassungsgabe. Obwohl ich, ohne mich bloßzustellen, zu behaupten wage, daß es sich hier um einen Einzelgänger handelt, einen Soziopathen. Wenn das, was sie in den Nachrichten über diese hinterlassenen
Botschaften sagen, wahr ist, haben wir vielleicht jemanden mit Wahnvorstellungen – Größenwahn, Wahnvorstellungen im
Hinblick auf Religiöses.«
»Alle sind ganz aus dem Häuschen wegen dieser
Äußerungen«, sagte Priest und reichte ihm zwei silberne Schlüssel. Seine Jacke kroch wieder über die Ohren hoch. Er 253
zog sie runter und nahm einen Schluck von seinem Drink, der Dampf schlug sich auf seine Brille. »Viele der Freiwilligen haben Paige Price’ Bericht im Fernseher
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