Sünden der Nacht
einzige Bastion Roms in einer Stadt, in der die Lutheraner reagierten. Als solche war es nur recht und billig, daß sich die Kirche in prachtvollem altem Stil präsentierte: eine Minikathedrale aus hiesigem Sandstein und Türmen, die gen Himmel ragten, mit Darstellungen der Agonie und des Triumphs Christi in den Bleiglasfenstern. Sie stand auf der Dinkytownseite der Stadt, schon fast draußen auf dem Land, als hätten die Norweger sich gedacht, daß die Baptisten am besten außer Sichtweite aufgehoben wären.
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Megan stieg die Vordertreppe hoch, und Erinnerungen aus der Kindheit schossen ihr durch den Kopf, drehten ihr den Magen um und machten ihre Handflächen schweißnaß. Mick hatte an jedem nur möglichen Sport teilgenommen – nicht nur aus Liebe dazu, sondern auch, damit er sich nach der Schule nicht um seine kleine Schwester kümmern mußte. Und Megan hatte man der Obhut von Frances Clay überlassen, der freudlosen, unscheinbaren Frau, die die Kirche saubermachte. Sie hatte endlose Stunden auf harten, kalten Kirchenbänken in St. Pat’s verbracht, während Frances den Staubflusen auf den Statuen der Heiligen Mutter den Garaus machte.
Ein halbes dutzend ältlicher Witwen murmelte den
Rosenkranz, als Megan das Kirchenschiff betrat, die Anführerin ratterte die Vaterunser herunter wie ein Auktionator. Das Innere der Kirche war genauso schön wie das Äußere, die Wände dunkelblau gestrichen und mit Bordüren in Gold, Weiß und Rosa bemalt. Die Flammen zahlloser Votivkerzen flackerten Muster von Licht und Schatten über die Wände.
Am Altar machte sich ein großer, bleistiftdünner Mann in Schwarz zu schaffen, ordnete Tücher und Kerzenleuchter.
Megan nahm ihn ins Visier und marschierte den Mittelgang hoch: Es kostete sie einige Mühe gegen den Drang, das Knie zu beugen, anzukämpfen. Als Kind hatte sie weder Zuflucht noch Trost in der Kirche gefunden und ignorierte sie deshalb als Erwachsener 363 Tage im Jahr. Nur an Weihnachten und Ostern kehrte sie dorthin zurück – sozusagen prophylaktisch.
Der Mann in Schwarz blieb reglos stehen, während sie sich näherte, sein Blick so ernst und dunkel wie seine Kleidung. Dem Aussehen nach war er etwa sechzig. Er hatte schütteres braunes Haar mit einem Hauch von Silber an den Schläfen. Mit auf den Tisch gestemmten Händen stand er da, den Mund mißmutig verzogen. Sein Gesicht war so schmal, daß er magersüchtig aussah. Megans Nackenhaare stellten sich auf, und sie sprach ein kleines Gebet für die Pfarreimitglieder von St. Elysius für 257
ihren Mut, dieser grimmigen Autorität jeden Sonntag unter die Augen zu treten. Er sah aus wie einer von der Sorte, die glaubten, Selbstgeißelung wäre eine angemessene Strafe für Pupsen in der Kirche.
Sie hielt ihren Dienstausweis hoch, als sie die Treppe hinaufstieg.
»Agent O’Malley, BCA. Ich würde gerne mit Ihnen über Josh Kirkwood reden, Hochwürden.«
Der Mann runzelte die Stirn. »Die Polizei war bereits hier.«
»Ich mache die Nachbefragung«, sagte Megan ruhig. »Soweit ich informiert bin, hatte Josh gerade seinen Dienst als Ministrant hier in St. Elysius begonnen. Wir versuchen uns ein Bild von Joshs Alltag zu machen und reden mit allen Erwachsenen, denen vielleicht eine Änderung seines Verhaltens in letzter Zeit aufgefallen ist oder denen gegenüber er irgendwelche Ängste erwähnt hat.«
»Und lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn ihrer ist das Himmelreich.« Der Klerikale zitierte diesen Satz aus Matthäus mit so dramatischer Stimme, daß die Damen mitten im Rosenkranz steckenblieben. Die Vorbeterin warf ihm einen giftigen Blick zu.
»Wir haben für Josh gebetet«, sagte er jetzt mit gedämpfterem Organ. »Ich erinnere mich nicht, Sie gestern abend beim Gottesdienst gesehen zu haben.« Er kniff die Augen zusammen, der tadelnde Ton war perfekt.
Megan mußte sich auf die Zunge beißen, um nicht automatisch um Verzeihung zu bitten. Vierhundert Menschen hatten sich zu diesem Gebet in der Kirche versammelt. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß er jedes Gesicht registrierte. Trotzdem sagte sie:
»Nein, ich war nicht in der Kirche, sondern draußen bei den Cops und habe mich an der Suche beteiligt.«
»Sein Schicksal liegt in den Händen Gottes. Wir müssen darauf vertrauen, daß der Herr ihn heimführt.«
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»Ich bin seit sieben Jahren Polizistin, Hochwürden, und vertraue Gott ungefähr so weit, wie mein Sehvermögen reicht.«
Er wich entsetzt zurück, als begännen
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