Sünden der Nacht
durchsichtiges, blauweißes Sommerkleid. Der lange Rock umspielte ihre Beine wie das Cape eines Matadors. Josh stand an einem Anlegepfosten. Paul hatte von hinten einen Arm um ihn gelegt und drückte ihn fest an sich, den anderen Arm um Hannahs Schulter
drapiert. Hielt sie alle zusammen. Eine Familie. So eng verbunden, so glücklich. So weit weg. So fern von dem, was aus ihnen geworden war. Auf dem letzten Bild der Seite saßen sie und Josh an Bord eines Segelboots bei Sonnenuntergang. Er schlief auf ihrem Schoß, und ihre Arme umfingen ihn schützend. Sie beugte sich mit geschlossenen Augen über ihn. Ihr Haar wehte im Wind. Sie hielt ihn sicher umarmt, während die See wogte und der Wind die Segel peitschte. Sicher und geliebt.
Sie konnte die Augen schließen und sein Gewicht in ihren Armen fühlen. Sein kleiner Körper so warm an ihrem. Sein Haar roch nach Salzwasser. Seine unglaublich langen Wimpern, ihr Schwung auf seiner Wange. Und sie fühlte, wie die Liebe zu ihm in ihrer Brust schwoll. Ihr Kind. Ein bildschönes kleines Geschöpf; in Liebe geschaffen und aufgezogen. Und sie fühlte genau wie in dem damaligen Augenblick all die Hoffnungen, die sie für ihn hegte, all die Träume um sein Gedeihen. Perfekte Träume. Wunderbare Träume.
Träume, die man ihr entrissen hatte. Josh war weg. Sie wirbelte herum, als eine weitere Freiwillige von der Gruppe Verschwundener Kinder den Kopf ins Zimmer steckte. Noch eine Fremde aus einer anderen Stadt, von der sie noch nie gehört hatte.
»Ich hab Ihnen eine heiße Schokolade gebracht«, sagte die Frau leise und nutzte die Ausrede, um das Zimmer zu betreten.
Hannah schätzte sie auf etwa vierzig, mittelgroß mit runden Hüften und flachem Busen. Ihre Haare waren eine formlose Masse aus kastanienbraunen Locken, die über ihre randlose Brille baumelten. Terry irgendwas. Die Namen drangen in ein Ohr hinein und zum anderen hinaus. Hannah gab sich keine Mühe, sie sich zu merken. Sie kamen, um ihr Unterstützung, Mitgefühl oder Empathie und Freundschaft zu bekunden, aber sie wollte nichts mit ihnen gemein haben. Es verlangte sie nicht danach, sich diesem Club anzuschließen.
»Ihr Mann ist im Fernsehen«, sagte Terry Wieauchimmer, als sie die Tasse mit dem Kakao auf den Nachttisch stellte. »Ich dachte, das interessiert Sie vielleicht.«
Hannah schüttelte den Kopf. Terry sagte nichts. Sie blieb mit dem Rücken an der Wand neben der Tür stehen, die Hände in den Taschen ihrer beigen Cordsamthose. Wartete. Hannah redete sich ein, sie wollte nichts mit dieser Frau zu tun haben; sie wehrte sich vergeblich gegen die, wie es ihr schien, erwartungsvolle Pause.
»Ich wurde gebeten aufzutreten«, sagte sie und starrte durch das Fenster
hinaus in die kalte schwarze Nacht, »aber damit habe ich nichts zu tun. Ich werde das, was ich fühle, nicht vor einem Publikum zur Schau stellen.«
Die Frau sagte gar nichts, als ahne sie irgendwie, daß da noch mehr kommen würde. Die Worte sprudelten aus ihr wie eine Art Beichte.
»Die Leute erwarten das von mir. Ich weiß, daß sie das tun. Sie erwarten, daß ich bei den Versammlungen und bei den Gebetswachen und im Fernsehen dabei bin. Aber ich möchte vor ihnen nicht schwach sein und weiß, daß ich nicht stark bleibe. Ich kann nicht vorbildlich sein, nicht jetzt.« Und die Schuldgefühle in dieser Hinsicht waren noch eine weitere Last zu der, die bereits drohte sie zu zermalmen.
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Terry unerschütterlich. »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber, was andere von Ihnen wollen. Sie brauchen nicht im Fernsehen aufzutreten, wenn Ihnen nicht wohl dabei ist. Wir alle machen jeweils das, was wir für richtig halten, um diesen Alptraum zu überstehen. Vielleicht hilft Ihrem Mann der Auftritt im Fernsehen.«
»Das kann ich nicht beurteilen.«
Wieder Schweigen.
»In letzter Zeit haben wir Verständigungsschwierigkeiten.«
»Es ist auch hart, Sie tun Ihr Bestes. Klammern Sie sich an die Bruchstücke Ihrer Beziehung, und zerbrechen Sie sich später den Kopf darüber, wie Sie sie wieder zusammensetzen können. Jetzt ist nur eins wichtig, nämlich das Durchhalten.«
Hannahs Blick wanderte zu dem Fotoalbum auf dem Tisch, den lächelnden Bildern von ihrem Sohn. Sie hätte alles getan, alles gegeben, um ihn sicher zurückzuhaben. Olie Swain fiel ihr ein, der in seiner Gefängniszelle saß, die Geheimnisse, die er erst noch enthüllen würde, und wieder packte sie dieses unerträgliche Gefühl von Erwartung.
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