Sünden der Nacht
auch nicht, daß ihre Karriere ihre Ehe zerstört hatte, ihre Familie zerrissen und ihn in die Arme einer anderen Frau getrieben hatte. Statt dessen sagten sie, Josh wäre entführt worden, während Dr. Garrison um das Leben eines Unfallopfers kämpfte. Alles hatten sie umgedreht, damit sie Gegenstand von Bewunderung und Mitleid würde.
»Sie ist zu Hause bei unserer Tochter«, sagte er knapp.
Paige schaute direkt in die Kamera. »Dr. Garrison, unsere Gebete begleiten Sie.«
19 Uhr 30, -34 Grad, Windabkühlungsfaktor: -52 Grad
Der Fernseher im Wohnzimmer lief. Hannah konnte ihn hören – murmelnde Stimmen, Veränderungen in Tonfall und Lautstärke -, aber verstand keine einzelnen Worte. Sie wollte es auch nicht, haßte TV 7 für dieses Interview, haßte ihre Nachbarn und Freunde, die es sich ansehn würden, haßte es, daß Leute, die sie nicht mal kannte, gebeten würden, ihre Gefühle über diese Schreckenstat auszusprechen. Wie konnte Paul sich nur bereit erklären, daran teilzunehmen? Da er ihre Gefühle so einfach ignorierte, war ein weiterer Beweis für die ständig wachsende Kluft zwischen ihnen.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der er diese Sendung genau so aufdringlich und heuchlerisch gefunden hätte wie sie. Heute abend war seine größte Sorge gewesen, was er anziehen sollte, und er hatte über eine Stunde im Bad mit Vorbereitungen dafür zugebracht. Der Gedanke, daß sie ihn nicht mehr wiedererkannte, schlich ihr in regelmäßigen Abständen durch den Kopf.
Sie stand in der Mitte von Joshs Zimmer, weil sie vor lauter Unruhe nicht sitzen konnte. Olie Swain war verhaftet, aber noch nicht offiziell angeklagt. Es hatte noch keine amtliche Verlautbarung über ein Geständnis oder Hinweise auf Joshs Verbleib gegeben. Nichts. Schweigen. Sie fühlte sich nach wie vor am Rande eines Abgrunds; jeder Muskel, jede Faser ihres Körpers war bis zum Zerreißen gespannt, während sie darauf wartete, in die eine oder andere Richtung zu fallen. Die Erwartung hatte sich so in ihr aufgestaut, daß sie überzeugt war, sie würde von dem Druck bald explodieren. Aber es gab keine Explosion und keine Erleichterung.
Sie lief im Zimmer auf und ab, die Arme fest um sich geschlungen.
Selbst mit dem dicken Sweatshirt und dem Rollenkragenpullover, die sie trug, fühlte sie sich dünn. Sie nahm ständig ab, und als Ärztin wußte sie, daß das nicht gut war. Der professionelle, intelligente Teil ihres Verstandes befahl ihr zu essen, zu schlafen, sich etwas Bewegung zu verschaffen, aber dieser Teil hatte seine Stimme eingebüßt. Gefühle regierten, unberechenbare, irrationale Gefühle.
Sie versuchte sich vorzustellen, wie das gewesen war – wie sie gewesen war -, als diese ruhige vernünftige Leiterin der Notaufnahme! Eiskalt unter Beschuß. Eine Autorität. Der Mensch, an den sich in einer Krise alle wandten. Sie versuchte sich an den Nachmittag vor Joshs Entführung zu erinnern. Die Patienten, die sie behandelt hatte. Die Menschen, denen sie Trost gespendet und Erklärungen gegeben hatte. Die Präzision des Unfallteams, als sie die Bemühungen um Ida Bergen koordiniert hatte.
Eine Woche war vergangen, eine entsetzliche Ewigkeit.
Vergnügtes Gequietsche war aus dem Wohnzimmer zu hören, wo Lily den BCA-Agenten mit ihrem Charme dazu gebracht hatte, mit ihr zu spielen. Hannah schloß die Tür, hier in Joshs Zimmer brauchte sie nichts zu hören als die Stille, die auf seine Stimme wartete. Sie atmete den wächsernen Geruch von Malstiften ein und fühlte sich, als hätte man ihr einen davon ins Herz gebohrt. Auf dem kleinen Schreibtisch lag das Fotoalbum, das sie an einem der ersten Tage hier aufgeschlagen hatte, als könnte die Anwesenheit von Joshs Bild ihn selbst herbeizaubern. Sie stützte ihre Hände auf und betrachtete die Fotografien, jede einzelne weckte eine Erinnerung.
Sie drei am Strand von Carolina in dem Sommer, als sie ihre Eltern besucht hatten. Das Jahr, bevor Lily zur Welt kam. Josh auf den Schultern seines Vaters, die Arme um Pauls Stirn geschlungen. Josh, wie er in T-Shirt und weiten Shorts neben einer Sandburg stand, die Arme ausgebreitet und sein breites Grinsen, das seine Lücken der ausgefallenen Milchzähne zeigte. Sein Haar war ein Gewirr von hellbraunen Locken, zerzaust vom selben Wind, der die schlanken Stiele der Gräser auf den Dünen bog, der Ozean dahinter ein blauer Gürtel, mit weißer Spitze verbrämt.
Sie drei, wie sie zusammen auf einem Pier standen. Alle lachten. Hannah trug ein
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