Sünden der Nacht
Was wußte er? Was würde er erzählen? Und wenn er mit der Sprache herausrückte, wäre dann alles vorbei?
»Es ist diese Ungewißheit«, flüsterte sie und drückte die Handballen vor die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Sie kamen trotzdem.
»Mein Gott, ich kann diese Ungewißheit nicht ertragen! Ich kann nicht mehr!«
Sie warf sich schluchzend an die Wand und schlug immer wieder mit der Faust dagegen, ohne Rücksicht auf dem Schmerz. Als der kurze
Adrenalinstrom versiegt war, blieb sie einfach stehen, drückte sich gegen das sorgsam geklebte Wandbild von baseballspielenden Buben und weinte. Sie bewegte sich nicht, als sie die Hand auf ihrer Schulter spürte.
»Ich weiß«, murmelte Terry. »Mein Sohn wurde entführt, als er zwölf war, auf dem Heimweg vom Kino. Wir lebten damals in Idaho, in einer Stadt ganz ähnlich wie diese, ein ruhiger, sicherer Ort. Nicht ganz sicher, wie sich herausstellte. Ich dachte, die Ungewißheit würde mich umbringen. Und es gab Zeiten, in denen ich wünschte, sie hätten es getan.«
Sie zog Hannah behutsam von der Wand weg, führte sie zu einem der Betten und setzte sich mit ihr. Hannah wischte sich das Gesicht mit dem Pulloverärmel ab und versuchte sich zusammenzureißen, beschämt, weil sie vor einer Fremden die Fassung verloren hatte. Aber Terry verhielt sich, als wäre das alles ganz normal, als hätte sie den Ausbruch nicht bemerkt.
»Er wäre heuer sechzehn geworden«, sagte sie. »Er würde Auto fahren lernen, sich mit Mädchen verabreden, in der Schule im Basketballteam spielen. Aber der Mann, der ihn uns weggenommen hat, hat ihn für immer ausgelöscht. Sie haben seine Leiche auf einem Schutthaufen gefunden, weggeworfen wie Müll.« Ihre Stimme überschlug sich, und sie verstummte für einen Augenblick, wartete, bis der Schmerz verebbt war.
»Nachdem sie ihn gefunden hatten, war es … wie eine Erlösung. Aber als wir es noch nicht wußten, hatten wir wenigstens noch die Hoffnung, daß er am Leben wäre und wir ihn zurückbekommen würden.« Sie wandte sich zu Hannah, die Augen voller Tränen, die nicht fallen wollten. »Halten Sie sich mit beiden Händen an dieser Hoffnung fest, Hannah. Es ist besser als nichts.«
Sie hat das alles auch durchgemacht, dachte Hannah. Sie weiß, was ich fühle, was ich denke, was ich fürchte. Die Verbindung war da; daß sie sie nicht wollte, spielte keine Rolle. Sie teilten beide einen Alptraum, und die Frau bot ihr die Weisheit, die sie aus ihrer Tortur gelernt hatte. Es hatte nichts zu sagen, daß Hannah diesem Club nicht beitreten wollte, sie war bereits Mitglied.
Sie streckte ihre Hand aus, nahm Terry Wieauchimmers Hand in die ihre und drückte sie.
19 Uhr 42, -35 Grad, Windabkühlungsfaktor: -52 Grad
»… und ich bin empört, daß man diese kranke, perverse Bestie nicht nur aus ihrem Käfig ließ, sondern auch noch duldete, daß er im selben Gebäude mit meinem Sohn und den Söhnen und Töchtern von jedermann in dieser Gemeinde zusammen war.«
Der Applaus der Menschen in der Freiwilligenzentrale ließ Paul innehalten. Er starrte direkt in die Kamera, den Kopf hoch erhoben, das Kinn vorgeschoben, mit fanatisch funkelnden Augen. Der Blick schien den Bildschirm zu durchbohren und schoß durch die Gitterstäbe direkt in Olies Herz. Er kannte diesen Blick, diesen Tonfall. Du machst mich krank! Du bist nur eine Mißgeburt! Ausgeburt des Teufels, sag ich dir! Ich werd dir den Anstand einbläuen! Und die andere, die schrillere Stimme gesellte sich dazu. Ich hab’s dir gesagt, Leslie! Du bist ein Taugenichts! Wein ja nicht, oder ich geb dir einen Grund zu weinen!
Er kauerte in der Ecke seiner Pritsche, zusammengerollt wie ein verängstigtes Tier. Man hatte ihn in eine eigene Zelle im Stadtgefängnis gesperrt, das für ein Gefängnis wahrhaft luxuriös war. Es stand praktisch leer, alles roch neu. Die Wände sahen noch weiß aus, der harte graue Boden glänzte. Nur ein schwacher Uringeruch schwebte über dem starken Geruch von Scheuermittel mit Tannenduft. Rauchen war verboten.
In der nächsten Zelle saß der stolze Besitzer eines tragbaren Fernsehers. Ein magerer Typ mit eng zusammenstehenden Augen namens Boog Newton, der drei Monate absaß, weil er sich regelmäßig halb bewußtlos soff, dann mit seinem Geländewagen die Gegend unsicher machte. Bei seiner letzten Eskapade war er rückwärts durch die Schaufensterscheibe von Loons Buch- und Geschenkeladen gefahren. Als einzigem mehr oder minder ständigen Bewohner des
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