Sünden der Nacht
schleppt. Läßt einfach zu, daß Kinderschänder Kinder von den Straßen seiner Stadt entführen. Keine große Überraschung, wenn man bedenkt, was in Miami passiert ist.
Sie legten sich wie ein Schraubstock um seine schmerzenden Schultern – die Schuldgefühle, mit Zorn verbrämt, von seiner Stimmung schwarz gefärbt. Er streifte sie mit einer heftigen Armbewegung ab, fluchend vor Selbstverachtung.
Du bist vielleicht ein Wichser, Holt. Hier geht’s doch gar nicht um dich, sondern um Miami. Laß die alte Wut im Bauch, da wo sie hingehört, und laß die neue für Josh raus.
Leichter gesagt als getan. Die Wut, das Gefühl von Ohnmacht, Verlust und Verrat waren Echos seiner Vergangenheit. Und genau wie jeder andere Cop, der genau wußte, daß er einen Fall nicht persönlich nehmen durfte, war er machtlos gegen das Gefühl der persönlichen Kränkung. Das war seine Stadt, seine Zuflucht, die heile, kleine Welt, die er kontrollieren konnte – seine Leute, seine Verantwortung. Für sie war er ein Symbol der Sicherheit, und sie kamen ihm vor wie erweiterte Familie.
Familie. Das Wort ließ ihn nicht los, als er zur Hintertür ging. In der eisigen Stille des frühen Morgens knarzte der Schnee unter seinen Stiefeln. Er schloß auf, betrat das Haus und zog sich seine schweren Stiefel im hinteren Korridor aus.
In der Küche öffnete Scotch, der alte Labrador, in Jessies Abwesenheit sein einziger Mitbewohner, ein Auge und blinzelte, ohne den Kopf von seinem gepolsterten Hundebett zu heben. Scotch war zwölf und offiziell vom Wachdienst pensioniert. Er vertrieb sich die Zeit damit, durchs Haus zu wandern und dabei, was immer ihm gerade gefiel, im Maul herumzuschleppen – einen Schuh, einen Handschuh, ein Kissen von der Couch, ein Taschenbuch. Eine von Jessies Minnymaus-Puppen hatte er sich als Kissen zwischen Kopf und Pfoten geklemmt.
Mitch nahm sie ihm nicht weg. Der alte Halunke hatte sie sich möglicherweise aus Jessies Zimmer gestohlen, aber genausogut konnte Jessie sie ihm in seinen Korb gelegt haben. Die Straussens wohnten auf der anderen Seite der Allee, und Jessie kam jeden Tag nach der Schule mit ihrem Großvater vorbei, um Scotch rauszulassen und mit ihm zu spielen. Sie liebte den alten Hund abgöttisch. Scotch ließ geduldig ihre Verkleidungsspiele und Teeparties über sich ergehen; treu und sanft erwiderte er die Liebe des kleinen Mädchens, bedingungslos. Bei dem Gedanken an sie wurde Mitch ganz warm ums Herz. Er tappte auf Strumpfsocken in die Küche. Das Licht über dem Spülstein tauchte den Raum in bernsteinfarbene Schatten. Sein Blick wanderte ziellos umher. Das Haus stammte aus den dreißiger Jahren. Ein nettes, solides einstöckiges Haus mit Parkettboden, einem Kamin im Wohnzimmer, und großen Ahornbäumen und Eichen im Garten. Ein Haus mit Charakter, der sich aber nicht entwickeln konnte, dank seines Mangels an Talent zur Inneneinrichtung.
Das war Allisons Stärke gewesen, eine echte Nestbauerin, mit Stilgefühl und Liebe zum Detail. Sie hätte diese Küche in einen gemütlichen Ort voller Charme verwandelt, mit gerahmten Drucken und getrockneten Paprikas, alten Krügen voller nach Zimt duftenden Trockenpflanzen. Mitch hatte den Raum genauso gelassen wie bei seinem Einzug, die Wände zum Großteil kahl, dieselben Vorhänge über dem Waschbecken, die der Vorgänger wahrscheinlich auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Das einzige, was Mitch dazu beigesteuert hatte, waren Jessies für ihn gemalten Bilder. Diese hatte er mit Magneten am Kühlschrank und mit Klebeband an den Wänden befestigt.
Irgendwie betonten aber diese bunten kindlichen Bilder in dem kahlen Raum noch mehr die Öde und Leere des Hauses.
Ein Gefühl von Verlassenheit befiel ihn bei der Betrachtung dieser Bilder. Allein. Einsam. Himmel, manchmal tat die Einsamkeit so weh, daß er alles gegeben hätte, um ihr zu entfliehen – sogar sein Leben. Er wäre zur Buße gestorben, aber Leben war doch die härtere Strafe!? Verrückte Gedanken. Irrationale Gedanken, hatte ihm der Polizeipsychiater gesagt. Die Logik erhob sich gegen seine Schuldgefühle, sprach ihn frei von persönlichem Versagen. Aber Logik hatte eben nur wenig mit Gefühl zu tun.
Er lehnte sich an den Spülstein, kniff die Augen zu und sah seinen Sohn vor sich. Kyle war sechs. Gescheit. Still. Wünschte sich zu Weihnachten ein Fahrrad. Nahm seinen Dad mit in die Schule während der Projektwoche und strahlte, während Vati den Erstkläßlern von seiner Arbeit als Polizist
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