Sünden der Nacht
Josh.
Das Hemd baumelte ihm vom Arm, als er ins Badezimmer stolperte. Er fiel vor der Toilette auf die Knie und begann zu würgen, sein ganzer Körper bäumte sich vor Anstrengung auf. Beim dritten Versuch kam der Kaffee hoch, aber hatte er nichts im Bauch zum Ausspucken. Er hielt sich an der Schüssel fest, ließ den Kopf auf den Unterarmen fallen und schloß die Augen. Das Bild seines Sohnes pulsierte hinter seinen Lidern.
Josh. Josh. Josh.
»O Gott, Josh«, wimmerte er.
Jetzt kamen die Tränen, sengend und mager quetschten sie sich durch seine Lider. Als sie versiegt waren, rappelte er sich langsam hoch, zog
sich ganz aus, faltete alles ordentlich und ließ es in den Wäschekorb fallen auf ein halbes Dutzend zerknüllter nasser Handtücher. Zitternd wie ein Opfer von Schüttellähmung kletterte er in die Wanne und drehte die Dusche voll auf, ließ das heiße Wasser die Kälte aus seinen Knochen vertreiben. Es prasselte wie Hagelkörner auf seine Haut, wusch den Schweiß und die Tränen und den leichten Geruch nach Sex ab, der immer noch an ihm haftete.
Nachdem er sich abgetrocknet und das Handtuch über die Stange gehängt hatte, zog er sich einen dicken schwarzen Frotteemantel an, der hinter der Tür hing, und ging hinaus in den Flur. Die Tür zu Lilys Zimmer stand offen, und ein schmaler Streifen Licht vom Gang fiel auf den rosaroten Teppich. Ein Stück weiter hinten stand die Tür zu Joshs Zimmer auf.
Alles hier schrie Junge. Eine Freundin von Hannah hatte die Wände mit Sportszenen bemalt. Ein Poster des Twin-Spielers Kirby Puckett hatte einen Ehrenplatz an der Wand. Zwischen den zwei Fenstern stand ein kleiner Schreibtisch, auf dem sich Bücher und Spielzeugfiguren türmten. An einer anderen Wand stand ein Stockbett. Hannah saß auf dem unteren Bett, die langen Beine angezogen und klammerte sich an einen fetten Plüschsaurier. Sie beobachtete, wie Paul die kleine Lampe auf dem Nachttisch anknipste. Sie wollte, daß er sie angrinste, die Arme ausbreitete und ihr sagte, daß sie Josh gesund und unversehrt gefunden hatten, aber das würde nicht passieren. Paul sah alt und eingefallen aus, eine Vorschau auf seinen Anblick in zwanzig Jahren. Sein nasses Haar war zurückgekämmt, wodurch sein Gesicht völlig vom Fleische gefallen wirkte.
»Sie haben die Geländesuche bis zum Morgen abgebrochen.« Hannah sagte nichts. Sie hatte weder die Energie noch das Herz zu fragen, ob es irgendwelche Hinweise gäbe. Paul hätte es ihr ohnehin sofort gesagt. Er sah sie einfach an. Das Schweigen sprach für sich.
»Hast du geschlafen?«
»Nein.«
Sie sah aus, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen. Ihr Haar war zerzaust und verklebt, Wimperntusche und Müdigkeit hatten tiefe Schatten unter ihre Augen gezeichnet. Sie trug jetzt einen seiner Schlafmäntel, ein billiges, blaues Veloursteil, das seine Mutter ihm vor Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Paul weigerte sich, ihn anzuziehen. Er hatte hart gearbeitet, um sich etwas Besseres leisten zu können als den Müll aus dem Discountladen. Aber Hannah weigerte
sich, ihn wegzuwerfen. Sie bewahrte ihn in ihrem Schrank auf und trug ihn ab und zu. Um ihn zu ärgern, dachte er, aber heute abend ignorierte er ihn einfach.
Sie sah verletzlich aus. Verletzlich war ein Wort, das Paul nur selten zur Beschreibung seiner Frau benutzte. Hannah war eine Frau der Neunziger – intelligent, tüchtig, stark, gleichberechtigt. Sie war nicht auf ihn angewiesen, hätte ohne ihn genausogut leben können wie mit ihm. Sie war genau die Art Frau, die er sich in seinen Träumen vorgestellt hatte, auf die er stolz sein konnte, anstatt sich ihrer zu schämen. Eine Persönlichkeit, die nicht nur Schatten, Sklave und Fußabstreifer ihres Mannes war.
Überleg dir gut, was du dir wünscht, Paul … flüsterte die fipsige Stimme seiner Mutter in seinem Hinterkopf. Er verdrängte sie so erfolgreich wie eh und je.
»Ich bin nur so hier gesessen«, murmelte Hannah, »wollte das Gefühl haben, ihm nahe zu sein.«
Ihr Kinn zitterte, und sie kniff die Augen zu. Paul setzte sich auf die Bettkante und nahm ihre Hand. Ihre Finger waren eiskalt. Er bedeckte sie mit seiner Hand und dachte daran, wie einfach es doch früher gewesen war, sie anzufassen. Es hatte Zeiten gegeben, wo sie gar nicht genug voneinander kriegen konnten. Das schien eine Ewigkeit her. »Wegen … Als du mir gesagt hast …« Er hielt inne und seufzte, dann setzte er erneut an: »Es tut mir leid, daß ich dich so angeschrien habe. Ich
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