Sündige Seide: Roman (German Edition)
hatte.
Während er auf das Essen wartete, stellte er sich ans Fenster und schaute hinunter. Auf der Straße gingen die Leute ihren Geschäften nach, als wäre nichts passiert. Hatten sie es denn nicht gehört? Jackson Wilde war tot.
Josh hatte es noch nicht wirklich begriffen, obwohl er den Toten und das Blut gesehen hatte. Er hatte nicht wirklich erwartet, daß die Welt in ihrem Lauf innehielt, aber er hatte das Gefühl, es müßte irgend etwas Bedeutsames geschehen, um den Tod seines Vaters zu kennzeichnen. Nie wieder würde Jackson einen Raum mit seiner knisternden, parasitären Energie füllen, die allen anderen die Lebenskraft aussog. Nie wieder würde Josh seine laut betende oder bösartig ironische Stimme hören und dem kalten Blick seines Vaters ausgesetzt sein, der so oft Enttäuschung oder Abscheu ausgedrückt hatte – und immer Kritik.
Vor sieben Jahren war Joshs Mutter Martha so unauffällig an einem Schlaganfall gestorben, wie sie gelebt hatte. Ihr Leben war so bedeutungslos gewesen, daß bei ihrem Tod das gut geölte Räderwerk der Missionsgesellschaft seines Vaters nicht einmal ins Stocken kam. Als sie starb, war Jackson gerade dabei, ins Kabelfernsehen einzusteigen. Er arbeitete unermüdlich und wie besessen. Gleich nach der Beerdigung seiner Frau war er wieder ins Büro gefahren, um ein paar Stunden zu arbeiten, damit der Tag nicht ganz verloren war.
Diese Taktlosigkeit hatte Josh seinem Vater nie verziehen. Deshalb bereitete es ihm auch keine Gewissensbisse, daß ihm vor Hunger der Magen knurrte, obwohl er erst vor Stunden den blutigen Leichnam seines Vaters gesehen hatte, und daß er seinen Vater mit seiner zweiten Frau betrog. Er nahm an, daß manche Sünden gerechtfertigt waren, auch wenn er auf keine Stelle in der Heiligen Schrift verweisen konnte, die diese Annahme bestätigte.
Ariel war zwei Jahre älter als Josh, doch als sie in ihrem übergroßen T-Shirt aus dem Schlafzimmer trat, sah sie viel jünger aus als er. Sie hatte ihr langes Haar aus dem Gesicht gekämmt und mit Haarspangen festgesteckt. Ihre Beine und Füße waren nackt. »Hast du auch einen Nachtisch bestellt?«
Jackson hatte sie immer mit ihrer Gier nach Süßem geneckt und ihr jedesmal Vorhaltungen gemacht, wenn sie ihren Genüssen nachgegeben hatte. »Schokoladentorte«, erklärte ihr Josh.
»Lecker.«
»Ariel?«
»Hmm?«
Er wartete, bis sie sich zu ihm umgedreht hatte. »Erst vor ein paar Stunden hast du die Leiche deines Mannes entdeckt.«
»Willst du mir den Appetit verderben?«
»Ich glaube schon. Macht dir das gar nichts aus?«
Sie sah ihn schmollend und kampflustig an. »Du weißt, wieviel ich vorhin geweint habe.«
Josh lachte humorlos. »Du hast auf Knopfdruck weinen können, seit du damals zu meinem Vater gekommen bist und ihn angefleht hast, für deinen kleinen Bruder zu beten, der lebenslänglich gekriegt hat. Du hast Daddy so weich geklopft, daß du schon beim nächsten Gottesdienst auf dem Podium gesungen hast. Ich habe gesehen, wie geschickt du deine Tränen einsetzen kannst. Andere halten sie vielleicht für echt, aber mir kannst du nichts vormachen. Du weinst, weil es sich so gehört oder weil du etwas erreichen willst. Nie, weil du traurig bist. Du bist zu selbstsüchtig, um jemals traurig zu sein. Du kannst zornig und verärgert und eifersüchtig sein, aber nicht traurig.«
»Jackson Wilde war ein gemeiner, gehässiger, egoistischer Hurensohn.« Sie blinzelte nicht einmal dabei. »Sein Tod wird mir nicht den Appetit verderben, denn es tut mir nicht leid, daß er tot ist. Höchstens, weil es sich auf unseren Kreuzzug auswirken könnte.«
»Und dagegen hast du dich schon auf der Pressekonferenz abgesichert.«
»Ganz recht, Josh. Ich habe bereits den Grundstein dafür gelegt,
daß die Missionsgesellschaft weiterbestehen kann. Irgendwer muß sich ja schließlich Gedanken um unsere Zukunft machen«, fügte sie schnippisch hinzu.
Josh preßte die Spitzen seiner langen, schlanken Musikerfinger an seine Stirn, als würde er unter schrecklichen Kopfschmerzen leiden, und drückte beide Augen zu. »Mein Gott, du bist eiskalt. Immer berechnend und ununterbrochen Pläne schmiedend.«
»Weil mir nie was anderes übrigblieb. Ich war kein reiches Kind wie du, Josh. Du nennst das Gut deiner Großeltern bei Nashville eine Farm«, spottete sie. »Ich bin auf einer richtigen Farm groß geworden. In Schmutz und Mistgestank. Ich habe nicht wie du nur zum Spaß die Pferde gestriegelt. Ob ich wollte oder nicht,
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