Suess und ehrenvoll
gelernt, mit dem Ohr an der Erde zu horchen, um ferne Schritte oder Hufgetrappel zu hören. Sie haben das Ohr sogar an Wasser gelegt, wenn es welches gab, weil man dann die Bewegungen des Feindes noch besser hören kann. Kindergeschichten, wirst Du denken. Aber etwas Besseres fällt mir nicht ein.
Als ich anfing, Dir zu schreiben, spürte ich einen starken Druck in der Magengegend. Jetzt bin ich ruhiger. Ich gehe erleichtert an meine Aufgabe heran. Siehst Du, was Du für einen guten Einfluss auf mich hast? Gibt es etwas Schöneres? Ich bin verliebter denn je. Grüß bitte Deinen Bauch von mir und sag dem kleinen Wesen darin, der Gruß sei von mir.
Für immer und ewig
Dein Ludwig
34
F RANKREICH
— Oktober 1918 —
Mitten in der Nacht war die Post eingetroffen. Nach einem langen Gewaltmarsch hatte das Regiment einen schmalen, reißenden Bach erreicht, und es wurde Befehl gegeben, unter den Bäumen am Ufer ein Biwak aufzuschlagen. Die Zelte hatten die Offiziere zusammen mit den Soldaten aufgebaut.
Louis schleppte sich müde zur Postverteilstelle. Eigentlich wollte er nur noch schlafen. Aber die Hoffnung war stärker. Seit Beginn des Vormarschs musste alles vor der Lieferung von Ausrüstung, Waffen, Munition und Lebensmitteln zurückstehen, umso schöner waren die Tage, wenn doch einmal Post kam. Für Louis war nur ein Brief dabei, aber der, auf den er am meisten gewartet hatte.
Ein dicker Brief von Élise! Wie viele Seiten sie ihm wieder geschrieben hatte! Er schnupperte an dem Umschlag. Nur mit viel Fantasie konnte er noch einen schwachen Hauch ihres Parfums erahnen. Louis schwankte, ob er ihn gleich lesen oder erst schlafen gehen sollte, und beschloss, ihn erst zu öffnen, wenn er ausgeruht und erfrischt war. So konnte er sich noch ein paar Stunden lang darauf freuen.
Doch als er zu seinem Zelt zurückkehrte, holte ihn ein Soldat ein, salutierte und meldete: »Herr Hauptmann, Sie sollen sofort zu Major Joubert kommen.« Louis drückte einen Kuss auf den Brief, steckte ihn in die Brusttasche seiner Uniformjacke und ging schwankend vor Müdigkeit zur Kommandostelle.
Joubert, der Nachrichtenoffizier des Regiments, kam gleich zur Sache. »Hauptmann Naquet, gut, dass Sie so schnell kommen konnten. Unser Kommandant Oberst Berthier hat Sie füreinen dringenden Auftrag vorgesehen. Wir haben Befehl, morgen anzugreifen. Bis dahin muss geklärt werden, wo der Angriff genau erfolgen soll. Und das hängt von Ihnen ab, Naquet.«
»Wieso von mir?«
»Sie sollen den Schwachpunkt in den feindlichen Linien finden. Suchen Sie sich Ihre Leute aus, und brechen Sie sofort auf. Die Erkundung muss vor Tagesanbruch abgeschlossen sein, damit Sie nicht entdeckt werden. Der Feind darf nicht merken, dass wir einen Angriff planen.«
»Aber warum meine Kompanie?«, fragte Louis und sah den Offizier aus müden, geröteten Augen an. »Wir sind nach einem langen Marsch hier angekommen, und anstatt uns auszuruhen, mussten wir die Zelte aufbauen. Sie wissen ja selbst, dass wir auch vor dem heutigen Marsch wenig geschlafen haben. Wir sind vollkommen erschöpft, und ich glaube nicht, dass wir in diesem Zustand einer solchen Aufgabe gewachsen sind.«
»Das verstehe ich gut, und vor allem weiß auch Oberst Berthier, wie es um Sie steht. Doch gerade darum hat er Sie für diese heikle Mission auserwählt. Das ganze Regiment ist restlos erschöpft und muss morgen trotzdem versuchen, gemeinsam mit den anderen Regimentern die feindlichen Linien zu durchbrechen. Deshalb ist es wichtig, dass wenigstens ein Teil der Soldaten vorher ein paar Stunden Schlaf bekommt. Unter diesen Umständen kann nur ein erfahrener und bewährter Offizier wie Sie diese Mission übernehmen.« Joubert breitete eine Karte aus und erklärte ihm kurz die Topografie der näheren Umgebung.
Damit war Louis entlassen. Er ging zum Bach, zog Uniformjacke und Hemd aus und tauchte den Kopf ins kalte Wasser. Danach sah er sich nach einer seichten Stelle um, die zum Überqueren geeignet war, und machte sich mit einigen seiner besten Soldaten auf den Weg.
Als sie sich darüber beklagten, dass ihnen wieder der dringend notwendige Schlaf verwehrt wurde, versuchte er, sie zu beruhigen. »Ihr habt ja recht«, sagte er, »ich habe mich auch beschwert. Wisst ihr, wie man die besten Soldaten Napoleons genannt hat? Les grognards de Bonaparte. Sie murrten zwar, waren aber die tollsten Draufgänger!«
Louis wusste, dass es zunächst darauf ankam, sich dem Feind unauffällig zu nähern und
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