Suess und ehrenvoll
anderen überlebenden Offizieren ein neues Bataillon gründen sollte, das aus Rekruten bestand, die gerade die Grundausbildung absolviert hatten.
»Mit diesen Grünschnäbeln soll ich an die Front?«, fragte Louis verbittert. Doch er hatte keine Wahl. Wegen des Mangels an Offizieren, die der deutschen Offensive zum Opfer gefallen waren, wurde Louis zum Hauptmann ernannt und übernahm das Kommando über eine Kompanie.
Es verging noch einige Zeit, bis das neue Bataillon einsatzfähig war. Im Juli kehrte Louis an die Marne zurück, wo er 1914 schon einmal gekämpft hatte. Wieder musste der deutsche Vormarsch aufgehalten und der Durchbruch nach Paris verhindert werden. Seit 1870 waren die Deutschen der französischen Hauptstadt nicht mehr so nahe gekommen. Mit Hilfe dreier riesiger Spezialgeschütze, deren Rohre 37 Meter lang waren und mit Gitterkonstruktionen gestützt werden mussten, gelang es ihnen sogar,Paris zu beschießen. Aus einer Entfernung von 130 Kilometern feuerten sie Sprenggranaten, die ungefähr 250 Zivilisten töteten. Der schlimmste Treffer tötete 88 Gläubige, die sich am Karfreitag 1918 in der Kirche Saint-Gervais-Saint-Protais zum Gottesdienst versammelt hatten.
Und wieder endete die deutsche Offensive mit einer Niederlage. Allmählich wagte Louis zu hoffen, dass das Ende des schrecklichen Krieges in Sicht war.
33
F RANKREICH
— 1918 —
Der Herbst hatte begonnen. In der deutschen Armee machten sich nur noch wenige Illusionen über den Ausgang des Krieges. Nach dem Scheitern der großen Frühjahrsoffensive gab es keine Perspektive mehr. Es hieß nur Rückzug, Rückzug und wieder Rückzug vor der Gegenoffensive der Entente. Man hoffte, dass es zum Waffenstillstand käme. Um die Versorgung stand es miserabel. Auch vorher hatte es an Lebensmitteln gefehlt, doch inzwischen schien sich dieser Mangel zum Dauerzustand zu entwickeln. Die Armee wurde mit Ersatznahrungsmitteln beliefert, die den Soldaten nicht selten Bauchschmerzen oder sogar Durchfall verursachten.
Ludwig hatte manchmal Angst, im Durcheinander des Rückzugs seine Einheit zu verlieren. Das hätte bedeutet, dem Feind in die Hände zu fallen oder, schlimmer noch, den Feldjägern, die ihn möglicherweise als Deserteur verdächtigen und vor ein Kriegsgericht stellen würden, was einem Todesurteil gleichkam.
An einem der letzten Septembertage wurde Ludwig aufgefordert, sich unverzüglich beim Regimentskommandeur zu melden. ›Lieber Gott‹, dachte Ludwig, ›was ist jetzt wieder los? Schon wieder eine Judenzählung?‹
Vor dem improvisierten Bunker des Regimentskommandeurs, ein paar Dutzend Meter hinter der vorläufigen Frontlinie, an der Ludwigs Kompanie sich eingegraben hatte, warteten schon zehn andere Soldaten. Der Kompaniechef rief sie herein und teilte ihnen mit, sie würden ab sofort als Aufklärungstrupp eingesetzt werden. »Sie wurden ausgewählt, weil Sie über die nötige Bildung und Kampferfahrung verfügen«, sagte er, warfeinen Blick auf die Dokumente, die er in der Hand hielt, und fragte: »Wer von Ihnen ist Feldwebel Kronheim?«
Ludwig trat vor und nahm Haltung an: »Hier, Herr Hauptmann!«
»Ich sehe, dass Sie einige Zeit bei der Funkkoordination eingesetzt waren, Kronheim.«
»Jawohl, Herr Hauptmann.«
»Ihre Erfahrung auf diesem Gebiet kann Ihnen bei der Erfüllung der Aufgabe nützen, die ich Ihnen hiermit übertrage. Ich ernenne Sie zum Zugführer des Aufklärungstrupps.«
Dann erklärte ihnen der Kompaniechef ihre künftige Aufgabe. »In der Phase des Krieges, in der wir uns jetzt befinden, haben wir so gut wie keine Unterstützung durch unsere Flieger. Der Feind beherrscht den Luftraum fast vollständig. Daher wissen wir meistens nicht, wo der Feind sich befindet, und sind in Gefahr, abgeschnitten und eingeschlossen zu werden. Die Zivilbevölkerung fürchtet uns nicht mehr und hilft dem Feind. Wir müssen deshalb auf herkömmliche Methoden zurückgreifen, um den Feind auszukundschaften. Ihre Aufgabe ist es, die gegnerischen Streitkräfte aufzuspüren und eventuelle Truppenbewegungen zu melden. In unserer Kompanie sind zwar nur Sie damit betraut, doch Sie könnten auf Spähtrupps anderer Einheiten stoßen. Sie müssen also darauf achten, Freund und Feind korrekt zu identifizieren, was natürlich auch für unsere anderen Aufklärungsgruppen gilt.«
In einem einstündigen Schnellkurs erklärte ein erfahrener Kundschafter der Gruppe ihre Aufgabe. Er würde sie bei ihrem Vorstoß ins Niemandsland aber nicht
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