Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
Vom Netzwerk:
an. Wie kommt es, dass ich keinen Erfolg bei den Hündinnen habe, während dir alle nachlaufen?‹
    ›Ganz einfach‹, antwortete der Wolf, ›ich bin zwar alt und nicht sehr ansehnlich, aber dafür bin ich ein edles Tier. Wölfe sind edle Tiere. Du siehst zwar jung und schön aus, aber man merkt gleich, dass du nur ein Hund bist.‹
    ›Woran merkt man das?‹, fragte der Schäferhund bestürzt.
    ›Das werde ich dir erklären‹, sagte der Wolf. ›Wenn du eine Hündin siehst, läufst du ihr nach und riechst an ihrem Hintern. Wenn ich eine Hündin sehe, gehe ich gemächlich auf sie zu und schnuppere an ihrer Nase. Das ist der Unterschied zwischen einem vulgären Hund und einem edlen Tier.‹
    Der Hund war sehr beeindruckt. Von diesem Tag an ging er immer, wenn er eine hübsche Hündin sah, langsam auf sie zu und roch an ihrer Nase. Und wirklich hatte er mit diesem System großen Erfolg bei den Damen, was ihn stolz und glücklich stimmte. Als er eines Tages den Wolf sah, dem er so viel verdankte, lief er voll Freude zu ihm und roch an seiner Nase. ›Nein, nein‹, wehrte der Wolf ab, ›bei mir nicht. Ich kenne dich ja und weiß genau, wer du bist. Mir kannst du am Hintern riechen.‹«
    Der Leutnant sprang mit hochrotem Kopf auf und rief seinem ehemaligen Freund zu: »Das wirst du mir bezahlen, Zwolle! Ich werde mich über dich beschweren.«
    »Beschweren?«, lachte der Feldwebel. »In dieser Armee? Wo lebst du eigentlich? Ich gebe dir dieselbe Antwort, die der Wolf dem Hund gegeben hat.« Am nächsten Tag war er verschwunden. Der dreifach ausgezeichnete, treue Soldat war desertiert.
    Ludwig war sehr deprimiert. Und es war nicht nur der Niedergang der Armee, der ihm so zusetzte. Alles, was sich um ihn herum abspielte, nahm erschreckende Dimensionen an. Ob das an seinem elenden Zustand lag? Der Hunger plagte ihn und schwächte seine Moral bis zur totalen Verzweiflung. Als das seltsame Gespräch zwischen Zwolle und Schwarzenberg stattfand, hatte seine Einheit schon seit zwei Tagen keine Verpflegung mehr bekommen. Doch dann ging ein Gerücht durch die provisorischen Schützengräben: Wir kriegen Brot! Richtiges Brot! Und tatsächlich wurde noch in derselben Nacht Brot geliefert.
    Der Quartiermeister verkündete, dass ein Laib Brot für vier Mann reichen musste. Auch Ludwig bekam als Unteroffizier ein Brot, das er mit drei Kameraden teilen sollte. Es war kleiner als gewöhnlich, grau, hart und geruchlos. Aber es war Brot. Die drei Kameraden saßen ihm gegenüber wie Raubtiere auf der Lauer. Ihm fiel eine schwere Aufgabe zu: Wenn einer von ihnen ein Stück bekam, das um einen Millimeter kleiner war als die Portion der anderen, würde es Krach geben.
    »Ich schlage vor«, sagte Ludwig, »dass wir das Brot in zwei gleiche Teile schneiden. Die eine Hälfte verteilen wir jetzt, die zweite heben wir für morgen früh auf. Wir wissen ja nicht, ob wir morgen etwas zu essen bekommen, müssen aber den ganzen Tag durchhalten.«
    Widerstrebend stimmten die anderen zu. Das war der leichtere Aspekt der Verteilung, weil niemand sich benachteiligt fühlen konnte. Dann ging Ludwig daran, vorsichtig und konzentriert wie ein Chirurg das halbe Brot, das zum sofortigen Verzehr bestimmt war, in vier gleiche Teile zu schneiden. Er prüfte sein Werk, und um den Beschwerden der Kameraden zuvorzukommen, zeigte er auf einen der vier Teile und sagte: »Mir scheint, dass dieser etwas kleiner ist. Findet ihr das auch?« Die anderen nickten, und Ludwig nahm den »kleineren Teil« für sich selbst. Er hatte keinen Unterschied zwischen den Brotstücken gesehen, aber so waren alle drei zufrieden und fühlten sich nicht benachteiligt.
    Ludwig steckte die zweite Ration in einen Beutel, band ihn zu und hängte ihn mit einem Draht unter die Decke, damit die Mäuse und Ratten nicht an das Brot gelangen konnten.

32
    V INCENNES
— Mai 1918 —
    Im Mai konnte Louis endlich den aktiven Dienst wieder aufnehmen. Als er sich in Vincennes meldete, wusste man nicht, was man mit ihm machen sollte. Sein Name erschien auf keiner Liste. Nach der feindlichen Offensive in der Picardie Ende März hatte man ihn offenbar als vermisst registriert. Louis erfuhr, dass nicht nur sein Bataillon, sondern auch seine ganze Division nicht mehr existierte. Nach den dramatischen Verlusten, die diese Division erlitten hatte, waren die noch kampffähigen Soldaten auf andere Einheiten verteilt worden. Schließlich schickte man Louis in ein Ausbildungslager, wo er gemeinsam mit

Weitere Kostenlose Bücher