Suess und ehrenvoll
Immer geht es gegen uns Juden. Was ist denn an uns so anders?«
»Das hat dein Vater dir doch oft erklärt.«
»Ja, ja. Ich weiß schon. Wir haben die klügsten Köpfe, die besten Wissenschaftler, die berühmtesten Künstler, und die Leute sind einfach nur neidisch. Deswegen ging es immer wieder gegen uns. Aber sind wir nicht auch Deutsche?«
Die Mutter seufzte. »Das ist nun mal unser Schicksal.«
»Und damit will ich mich nun mal nicht abfinden«, protestierte Ludwig. »Es muss sich was ändern, damit wir von den Leuten anerkannt werden. Man kann nicht einfach die Hände in den Schoß legen und warten.«
»Ja«, pflichtete sie ihm bei. »Wenn wir uns anpassen, fallen wir auch nicht mehr auf. Wir müssen nur die gesellschaftlichen Regeln befolgen, und zwar mit Geduld, Beharrlichkeit und eiserner Disziplin, da muss ich deinem Vater recht geben.«
Ludwig verdrehte die Augen. Das hatte er schon so oft zu hören bekommen, dass es ihm auf die Nerven ging. »Und? Hat das bisher etwas gebracht?«
Die Mutter machte ein verschlossenes Gesicht. »Immerhin wurdest du am Lessing-Gymnasium aufgenommen, was nicht ganz einfach war«, erinnerte sie ihn. »Das ist ein großer Schritt. Schreib dir das hinter die Ohren.«
Das war eine Formulierung seines Vaters, und Ludwig hasste es, sich etwas »hinter die Ohren schreiben« zu müssen. »Kann ich jetzt in mein Zimmer gehen?«
»Von mir aus ja. Aber denk daran, dass es bald Essen gibt. Komm bitte pünktlich zu Tisch. Dein Vater ist heute nicht gut bei Laune.«
›Das ist er nie‹, dachte Ludwig. Selbst wenn draußen die Welt unterginge, hätte Vater kein Verständnis für die geringste Verspätung. Preußischer als die Preußen will er sein. Fünf Minuten vor der Zeit, das ist des Kaisers Pünktlichkeit.
In seinem Zimmer warf Ludwig sich voll bekleidet aufs Bett. Er würde es gleich wieder sorgfältig richten müssen, damit niemand etwas merkte. Er war noch immer wütend und wusste nicht, auf wen er diese Wut richten sollte, auf den Mitschüler, auf Mutters penetrantes »Verständnis«, auf Vaters Strenge oder auf das Leben, das ihm alles so schwer machte.
Sein Vater achtete kaum auf die Gefühle anderer, war selbst aber höchst empfindlich. Disziplin war wichtiger als alles andere. Und wehe dem, der es gewagt hätte, ihm etwas vorzuwerfen. Machte er einen Witz, erwartete er großes Gelächter, während er seine ausdruckslose Miene beibehielt, wenn jemand anderes einen Scherz machte. Eine von Ludwigs schlimmsten Erinnerungen an seinen Vater war, wie er ihm an dessen Geburtstag beim Gang zum Frühstückstisch lediglich einen Guten Morgen gewünscht hatte, statt ihm zu gratulieren. Die folgende bösartige Rüge, die einer verbalen Ohrfeige gleichgekommen war, würde er zeitlebens nicht vergessen.
Seine letzte handgreifliche Ohrfeige hatte Ludwig ausgerechnet bei seiner Bar-Mizwa-Feier bezogen, erinnerte er sich bitter. Und das noch in Gegenwart von Gästen. Dabei war er lediglich ein paar Minuten zu spät gekommen, weil er so aufgeregt gewesen war.
An sich fühlte Ludwig sich in der Schule wohl. Er war heimlich stolz darauf, dass der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1908 früher Lehrer an seiner Schule gewesen war, und der Latein- und Griechischunterricht führte dazu, dass er sich oft genug in die »Ilias«, die »Odyssee« und die klassischen Heldensagen hineinträumte. Seine Mitschüler stammten größtenteils aus bürgerlichen Familien, die sich für aufgeklärt und fortschrittlich hielten. Ein oder zwei von ihnen kamen aus »gemischten«, katholisch-evangelischen Elternhäusern, und es gab sogar christlich-jüdische Elternpaare. Nicht weniger als ein Fünftel seiner Mitschüler ging gelegentlich in die Synagoge. Das finstere Mittelalter schien so fern wie nie. Dass der Frankfurter Rat Lessings berühmtes Drama »Nathan der Weise« bei seinem Erscheinen noch hatte konfiszieren und die Juden am Sonntag nicht aus der »Judengasse« hatte herauslassen wollen, war längst vergessen. Napoleon hatte die Juden mit einem Federstrich »emanzipiert«, und heute waren sie preußische Staatsbürger wie alle anderen. Und dennoch gab es immer wieder einen verstockten Schulkameraden, der Ludwig heimlich piesackte oder hinter seinem Rücken einen »Saujuden« nannte.
Wenn Ludwig Albträume hatte, handelten sie immer von seinem Vater. Doch manchmal, wenn er an ihn und seine pedantischen Gewohnheiten dachte, musste er lächeln, was Vater bestimmt als »unverschämtes Grinsen«
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