Suess und ehrenvoll
Können in die Tat umzusetzen. Weil er nicht den Mut hatte, mit anderen Kindern zu reden, setzte sie ihn in der Klasse neben ausgewählte Kinder, die ihn bisweilen von selbst ansprachen, ihn aber in Ruhe ließen, wenn ihm das lieber zu sein schien. »Selbstbewusste und zugleich sensible Kinder«, wie sie einmal in einem Gespräch mit einem Kollegen gesagt hatte.
Sie hatte ihn verändert. Sie förderte ihn, so gut sie konnte,aber sie verlangte auch viel von ihm. Oft bekam er einen Spruch von ihr zu hören: »Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben.« Das hatte er zuerst wörtlich genommen, aber nie eine Veränderung im Spiegel entdeckt. Aber sie hatte dieses Zitat, von dem er später erfuhr, dass es vom deutschen Dichter Schiller stammte, unterschiedlich eingesetzt – mal als Forderung, wenn sie ihn zu etwas bewegen wollte, und mal als Lob, wenn er einmal etwas zustande gebracht hatte, was ihre Aussage bestätigte.
Dabei lobte sie ihn häufig, um sein Selbstbewusstsein zu stärken. »Wenn der Junge seine Minderwertigkeitsgefühle nicht überwindet«, predigte sie seinen Eltern, »kann er seine Fähigkeiten nicht entwickeln. Sie sollten ihn nicht tadeln und bestrafen, auch wenn er es verdient zu haben scheint. Fördern Sie sein Selbstbewusstsein.« Die Eltern ließen sich leicht überzeugen und übertrugen diesen Rat auch auf seine drei Schwestern. Der Wechsel von der Volksschule zum Gymnasium war Louis hauptsächlich als Trennungsschmerz in Erinnerung. Er hatte Anne Duprez sehr in sein kindliches Herz geschlossen.
Im Gymnasium tat sich Louis daher zunächst schwer. Doch sein Vater stärkte ihm stets den Rücken und prägte ihm immer wieder ein: »Vergiss nie, dass du in erster Linie Franzose bist, der Sohn einer alteingesessenen französischen Familie. Aber du bist auch Jude, und der Status der Juden, einer winzigen Minderheit in unserer Gesellschaft, hängt seit jeher von ihrer Bildung ab.« Das galt seiner Meinung nach auch für Bordeaux, wo Juden im Gegensatz zu anderen französischen Städten schon vor der Großen Revolution als geachtete Bürger angesehen wurden. »Unsere Stärke liegt darin begründet, dass wir das Lernen seit jeher als höchsten Wert geschätzt haben.«
Die Eltern hatten ins Schwarze getroffen. Wenn Louis sich an diesem ereignisreichen Tag auf etwas freute, so war es das Wiedersehen mit seiner strengen, heißgeliebten Lehrerin. Seinen Erfolg hatte er vor allem ihr zu verdanken, dachte er auf dem Heimweg und nahm sich vor, ihr das auch zu sagen.
Doch zunächst erlebte Louis eine Überraschung ganz anderer Art. Unter der Gratulationspost befand sich, völlig unvorhergesehen, ein amtliches Schreiben. »Gestellungsbefehl«, las Louis.
»Wozu haben die es so eilig?«, schimpfte Vater Lucien. »Man kann doch einem Jungen nach der anstrengenden Reifeprüfung ein wenig Ruhe gönnen!« Doch Louis meinte auf seine ruhige Art, es sei besser, vor dem Beginn des Berufslebens einberufen zu werden als mittendrin.
Der Gestellungsbefehl konnte die allgemeine Freude nicht trüben. Er lenkte aber die Gespräche am langen, dicht besetzten Tisch auf den Militärdienst, der an diesem Abend zum zentralen Thema wurde. Einige Vettern und andere entfernte Verwandte von Louis waren ebenfalls einberufen worden, alle am gleichen Tag, und die Erwachsenen gaben ihnen Ratschläge aus ihren eigenen Erfahrungen in der Armee.
In dieser fröhlichen Runde schien niemand die Einberufung für eine Tragödie zu halten. Im Gegenteil, zumindest die Männer betrachteten den Militärdienst als spannendes Erlebnis, das Abenteuer im weltumspannenden Kolonialreich versprach. »Jetzt wirst du ein Mann!«, rief man Louis zu und stieß auf sein Wohl an.
»Du wirst ganz schön herumkommen«, meinte ein anderer. »Man stelle sich vor, unser Louis in Indochina, oder im tiefsten Afrika! Wenn es dir gefällt, kannst du dich freiwillig melden und länger bleiben.«
Louis sagte nichts dazu, aber er war sich ganz sicher, dass er keinen Tag länger als nötig in der Armee bleiben würde. Er hatte jetzt schon das Gefühl, Vater mit seiner Bäckerei im Stich zu lassen, und er wollte so schnell wie möglich wieder dabei sein.
Von Gefahren sprach niemand. Welche Gefahren sollten einem Soldaten in diesem Frühsommer des Jahres 1913 auch drohen? Nie war das Leben in Europa besser gewesen. Die Krisen, mit denen sich die europäischen Mächte in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts hatten auseinandersetzen müssen, waren beigelegt und aus dem
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