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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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Wege geräumt. Die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen in Europa konnten sich ungestört entfalten. Zwischen den europäischen Staaten herrschte lebhafter Reiseverkehr. Die Grenzen waren offen, als hätte es sie nie gegeben, und die Wirtschaft blühte. Gewiss, der Wehrdienst war lang. Volle drei Jahre, doch das fiel an diesem Abend kaum jemandem auf. Nur Louis dachte immer wieder: ›Drei Jahre fort von zu Hause. Wie werde ich das durchhalten?‹
    Seine alte Lehrerin hatte er in die Arme geschlossen und sie auf beide Wangen geküsst wie eine alte Freundin, und dabei war ihm aufgefallen, wie dünn und zerbrechlich sie geworden war – in seiner Erinnerung war sie eine kräftige, selbstbewusste und dominante Person gewesen, aber das hatte er wohl nur so gesehen, weil er selbst noch ein Kind gewesen war. Sie hatte sich gefreut über seinen Erfolg und hatte sich in ihrer Meinung über ihn bestätigt gefühlt. »In dir steckt noch mehr, sehr viel mehr«, hatte sie gemeint, und dann gefragt: »Meinst du, du wirst in der Armee zurechtkommen?«
    Sie hatte seine Befürchtungen ganz direkt getroffen. Sie schien ihn noch immer so gut zu kennen wie früher, obwohl so viele Jahre dazwischen lagen. »Wieso nicht?«, war seine Gegenfrage gewesen. »Ich bin jung und nicht mehr ganz so schüchtern wie als Kind, und ich habe heute Lorbeeren geerntet, auf denen ich mich ausruhen kann.«
    »Das wirst du nicht tun, denn ausruhen liegt dir nicht«, hatte sie gemeint. »Aber denk ja nicht daran, dass du als Soldat Karriere machen wirst. Als Jude bist du nicht überall so gut gelitten wie hier in Bordeaux. Es gibt eine Menge Antisemiten, die dir das Leben schwer machen werden, gerade beim Militär. Du erinnerst dich ja an die Affäre Dreyfus. Der Mann ist zwar rehabilitiert, aber die Atmosphäre, die ihn zu Fall gebracht hat, existiert immer noch. Sei auf der Hut, und tu dich nicht hervor.« Sie hatte ihn angelächelt. »Aber dafür bist du ohnehin nicht der Typ.«
    Am nächsten Morgen, in der Backstube, sprach ihn sein Vater an, weil er gemerkt hatte, dass Louis sehr in sich gekehrt wirkte. »Was ist mit dir los?«, fragte er, obwohl er doch wusste, dass Louis kaum ansprechbar war, wenn ihn etwas beschäftigte. Solange er in Nachdenken versunken war, konzentrierte er sich auf das eine Problem, und der Rest der Welt hörte auf, für ihn zu existieren.
    Diesmal aber hob Louis den Blick und sah dem Vater in die Augen. »Papa, bist du sicher, dass ich keine Probleme in der Armee haben werde? Dass dort alles so rosig ist, wie die Leute gestern Abend geschwärmt haben? Ich meine nicht die physischen Strapazen. Das ist es nicht, was mir Sorgen macht. Körperlich bin ich in bester Form.«
    »Aber was macht dir denn dann Sorgen?«
    »Papa, erinnerst du dich noch an die Vorträge, die du uns gehalten hast, als wir noch Kinder waren? Lange Vorträge, wie es deine Art ist. Damals hast du manchmal über den Dreyfus-Prozess gesprochen. Ich habe nicht immer alles verstanden, aber ich erinnere mich, dass du gesagt hast, dass Dreyfus nicht wegen eines harmlosen Irrtums verfolgt wurde. Du hast versucht, uns klarzumachen, wie sehr die militärische Elite von antisemitischen Vorurteilen beeinflusst war. Du hast oft betont, und nicht nur in diesem Zusammenhang, dass der Status, den wir Juden in Bordeaux genießen, nicht typisch für die Einstellung aller Franzosen zu den Juden sei, und ganz gewiss nicht in der Armee. Die Elite der Offiziere sei überwiegend konservativ und teilweise antisemitisch gesinnt.« Er sah seinen Vater ernst an.
    »Die Armee ist natürlich kein Kaffeekränzchen«, sagte Vater Lucien, »und auch in der zivilen Gesellschaft sind selbst anständige Leute nicht frei von Vorurteilen. Die Toleranz der kultivierten Gesellschaft ist oft geheuchelt. Aber Soldaten können wirklich grausam sein. Grausamer als Kinder. Trotzdem sollte man nicht übertreiben. Die Dreyfus-Affäre war für uns Juden traumatisch. Nicht nur Dreyfus wurde unschuldig an den Pranger gestellt, sondern wir alle. Genau das bewirkt der Antisemitismus. Wenn ein Jude sündigt, werden wir alle beschuldigt. Selbst wenn Dreyfus wirklich schuldig gewesen wäre, hätte das noch lange nicht bedeutet, dass uns alle die Schuld trifft, aber man sieht es so. Doch auf der anderen Seite müssen wir uns fragen, Louis, wer für Dreyfus eingetreten ist. Die Juden? Glaub das bloß nicht. Es waren andere Franzosen, Männer wie Émile Zola, die sich für die Wiederaufnahme des Verfahrens

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