Suess und ehrenvoll
an, ganz kurz nur.
Am letzten Schultag, nach den Feierlichkeiten zum Abitur, rückte Gudrun so nahe an den Zaun, dass sie die Hände der Jungen berühren konnte. Ludwig, der wie immer ein wenig abseits stand, beobachtete, wie sie unter schallendem Gelächter der Schulkameraden jedem etwas in die Hand drückte, und die Jungen nahmen die geheimnisvolle Gabe freudig entgegen. Ludwig hatte sich lange gefragt, was das wohl gewesen sein könnte.
Und jetzt stand sie hier vor ihm, in Heidelberg. Ausgerechnet im Karzer. Auch hier gab es ein Gitter. Ihr rabenschwarzes Haar war vierfach gescheitelt und fiel lose nach allen Seiten herab. Ein langer Pony bedeckte ihre Stirn fast bis zu den großen schwarzen Augen und verlieh ihr etwas Dunkles, Geheimnisumwittertes.
»W-w-was machst du denn hier?«, fragte er stammelnd. »Hast du was verbrochen?«
»Quatsch!«, sagte sie lachend. »Glaubst du, ich lasse mich von den Idioten hier einsperren? Ich bin auch bloß zu Besuch da. Lass uns zu ›Schillers‹ gehen und eine heiße Schokolade trinken.«
Eine halbe Stunde später saßen sie vor den dampfenden Tassen. Während Ludwig ihr amüsiert und staunend zuhörte, entging ihm nicht, dass ihn Gudrun eindringlich musterte. ›Was hatte dieser Blick zu bedeuten‹, fragte er sich unsicher. ›Ob er ihr gefiel?‹ Er war jetzt so aufgeregt, dass er gleich mit der ersten Frage herausplatzte, die ihm in den Kopf kam: »Sag mal, am letzten Schultag hast du den anderen Jungen etwas geschenkt. Ich habe mich immer gefragt, was das war …«
Zu seiner Überraschung errötete Gudrun. »Willst du das wirklich wissen?«
»Ja«, sagte er wahrheitsgemäß.
Sie lachte. »Warte einen Moment.« Sie stand auf und verschwand. Fünf Minuten später war sie zurück und gab ihm einen mehrfach gefalteten Zettel. »Du darfst es aber erst anschauen, wenn ich gegangen bin.«
Ludwig nickte. Es war Mitte Dezember, und die Weihnachtsferien standen vor der Tür. »Fährst du über die Feiertage nach Hause?«, fragte er nach einer Pause.
»Nein.«
»Warum denn nicht?«
»Weil ich keine Lust habe. Die ewigen Familienfeiern, Advent, Heiligabend, Weihnachten, das bedeutet mir alles nichts mehr und hat mich schon letztes Jahr zu Tode gelangweilt«, erklärte Gudrun lachend. »Aber du braver Sohn wirst die nächsten Wochen bestimmt in Frankfurt bei Muttern verbringen«, sagte sie und warf ihm einen prüfenden Blick zu.
»Nein«, sagte Ludwig und spürte, wie seine Wangen brannten. »Chanukka ist vorbei, und Weihnachten feiern wir nicht.«
»Chanukka? Ist das nicht dieses Lichterfest?«
Ludwig lachte. »Chanukka ist ein Siegesfest. Es erinnert an den Sieg der Makkabäer über die Griechen und die Wiedereinweihung des Tempels im Jahre 165 vor unserer Zeitrechnung.« Im Stillen dachte Ludwig, dass er, was die Familienfeste betraf, genauso zwiespältige Gefühle hegte wie Gudrun. Der Synagogenbesuch am jüdischen Neujahr im Herbst und am Versöhnungstag, dem heiligsten Tag des Jahres, war ihm unendlich lang und ermüdend erschienen. Vielleicht würde er den Vater im nächsten Jahr nicht mehr begleiten.
»Ich wusste gar nicht, dass ihr Juden so kriegerisch seid«, sagte Gudrun, aber man spürte, dass sie immer neugieriger wurde.
»Vielleicht können wir uns ja in den Ferien mal treffen?«, wagte Ludwig sich vor.
»Warum nicht?«, gab sie augenzwinkernd zurück, stand auf und verließ das Café.
Ludwig hatte das Gefühl, dass ihm der Zettel ein Loch in die Tasche brannte. Vorsichtig zog er ihn heraus, um die geheime Botschaft zu lesen. Zu seiner Überraschung war das Papier unbeschrieben. Aber als er es ganz aufgefaltet hatte, fiel ein kurzes, hartes, stark gekräuseltes Schamhaar heraus.
Die Universität leerte sich zusehends. Immer mehr Studenten fuhren nach Hause. Ludwig und Gudrun trafen sich von nun an fast täglich. Er war jetzt schon einundzwanzig und von dem dringenden Verlangen getrieben, endlich gewisse Dinge zu erkunden, die ihm bisher verschlossen geblieben, aber unbedingt zu erledigen waren, und Gudrun fand anscheinend nichts dabei, in Abwesenheit anderer Verehrer mit ihm vorlieb zu nehmen. Sie zeigte sich nicht zimperlich, und wenn sie spazieren gingen, endete das Rendezvous meist in einer lauschigen Ecke mit glühenden Küssen. Eines Tages lud Ludwig sie, bis unter die Haarwurzeln errötend, in das Zimmer ein, das seine Eltern in der Stadt für ihn gemietet hatten. Seine Zimmerwirtin war über die Feiertage zu ihrer Verwandtschaft gefahren, und
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