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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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so konnte er den »Damenbesuch« ausnahmsweise riskieren. Gudrun, die in einer streng überwachten Pension wohnte, zeigte sich nicht im Geringsten überrascht. Es schien so, als hätte sie längst in Erfahrung gebracht, dass er eine »sturmfreie« Bude hatte.
    »Einverstanden«, sagte sie, »ich komm heute Abend um acht.« Sie sah ihm tief in die Augen, stand auf und ging. Ludwig blieb noch sitzen. Vor lauter Aufregung wusste er nicht, wohin mit sich.
    Am Abend begrüßte Gudrun ihn mit einem Blick, dessen Weichheit ihn überraschte. Leichtfüßig kam sie die Treppe herauf (während er eine Höllenangst hatte, dass die Nachbarn aufmerksam werden könnten), inspizierte sein Zimmer, warf ihren Mantel auf einen Sessel und legte sich rücklings aufs Bett,ohne ein Wort zu sagen. Ludwigs Herzschlag schien ihm den Kopf zu sprengen. Ihm war klar, dass er den nächsten Schritt tun musste, und er beschloss, direkt zur Sache zu kommen. Er nahm nicht ihre Hand, versuchte nicht, ihr Gesicht zu küssen, sprach kein Wort. Wie ein Amokläufer von der Angst besessen, dass sein künstlicher Mut nicht von Dauer sein würde, zerrte er unbeholfen an ihrem Rock. Gudrun sah ihm schweigend dabei zu, beobachtete seine fieberhaften Versuche, einen Weg durch die Verschlüsse zu finden. Mit einem Mal sprang sie auf, warf Ludwig einen Blick zu, in dem er Mitleid zu lesen meinte, streichelte mit einem mütterlichen Lächeln seine Wange, packte ihren Mantel und ging zur Tür. Die Hand schon auf der Türklinke, wandte sie sich noch einmal zu dem verblüfften Ludwig um: »Tut mir leid, Junge. Du musst dir wohl eine andere Lehrerin suchen.«
    Die Geschichte mit Gudrun ging ihm noch lange nach. Verzweifelt dachte er darüber nach, was er wohl falsch machte bei Mädchen. Er konnte nicht so leichtherzig mit ihnen umgehen wie seine Schulkameraden. Er hätte gern eine Freundin gehabt, aber er war einfach zu schüchtern. Vielleicht lag das an seinem Elternhaus, seiner strengen Erziehung, seiner Herkunft. Irgendwann musste er sich überwinden, und das würde, so hoffte er, von allein passieren, wenn er die Richtige traf.
    In der Königsteiner Straße hatte es eine Nachbarstochter gegeben, die ihn sehr faszinierte, aber noch unerreichbarer schien als jede Gudrun. Sie war etwas älter als er, studierte bereits und trug enge Blusen. Er fand ihren Anblick aufregend. Wenn sie ihm begegnete, schien sie ihn nicht zu beachten. Doch einmal hörte er, wie sie im Treppenhaus zu einer Freundin sagte: »Ein hübscher Junge, der kleine Kronheim.«
    ›Hübsch?‹, dachte Ludwig. ›Ich soll hübsch sein?‹ Er betrachtete sich im Spiegel und seufzte, wenn ihm sein rundes Kindergesicht entgegenblickte. In den Unterklassen des Gymnasiumswar er kleiner gewesen als die meisten seiner Klassenkameraden, doch dann war er plötzlich in die Höhe geschossen. Sein Haar war kastanienbraun, seine Augenfarbe wie der Himmel an einem besonders klaren Tag, wie eine Freundin seiner Mutter einmal bewundernd festgestellt hatte. Er hatte das übertrieben gefunden. Die kleine Nase war gerade und frech. Er lächelte viel, oft aus Verlegenheit, und beim Lächeln sah man eine Reihe weißer Zähne, die soldatengleich in Reih und Glied standen. Auch seine Hände mit den langen Fingern waren schön; stark, aber nicht grob. ›Aber was nützt mir das‹, dachte er oft. Ihm fehlte die Selbstsicherheit.

4
    H EIDELBERG
— Frühjahr 1914 —
    Es wurde Frühling. Die Prüfungen rückten näher. Eines Morgens ging Ludwig am linken Neckarufer spazieren, wenige Schritte vom Hauptgebäude der Universität entfernt. Wegen des noch recht kühlen Windes, der vom Fluss heraufkam, suchte er sich einen bequemen, geschützten Platz im Botanischen Garten. Er setzte sich auf eine Bank, packte Bücher und Hefte aus. Ach, es war aussichtslos. Wieder einmal ringelten sich die Paragrafen wie Schlangen vor seinen Augen. Er würde am Ende ins Repetitorium müssen, wenn er das Staatsexamen mit einer guten Note bestehen wollte.
    Nach einer Weile drang Mädchengelächter an sein Ohr. Er hob nur kurz den Kopf, um den Faden nicht zu verlieren. Wenige Meter von ihm entfernt war eine Gruppe von jungen Frauen dabei, es sich auf der Wiese bequem zu machen. Er wollte sich schon wieder seinen Vorlesungsmitschriften zuwenden, als er stutzte. Eins der Gesichter kam ihm bekannt vor. War das nicht die Studentin, die ihn neulich im Seminar gebeten hatte, ein Buch für sie aus einem hohen Regal herunterzuholen? Er spähte aus dem

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