Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
immer doppelt so viele Übungsaufgaben zu bewältigen, wie vom Lehrer gefordert.
»Aber das muss ich nicht.«
»Das Leben ist nicht einfacher geworden, der Wettbewerb ist heutzutage knallhart.«
»Und bei welchem Wettbewerb machst du mit, Mama?«
»Ich? Mich wird man fragen, was aus meiner Tochter geworden ist.«
»Wie waren denn deine eigenen Zeugnisse?«
Sie lachte auf, nicht fröhlich: »Ich bin längst nicht so intelligent wie dein Vater und du.«
»Also bin ich dein Beruf?« Die Tochter wollte es diesmal genauer wissen.
»Wenn du so willst, ja. Wir haben so lange auf dich warten müssen, deine Mutter zu sein bedeutet mir alles.«
Paula schaute sie ernst an: »In zwei Jahren bist du entlassen.«
Sie lachte auf: »Ich bin noch deine Mutter, wenn ich tot bin, wirst schon sehen.«
Das Schönste am Abhauen war, nicht mehr ständig beobachtet zu werden. Paula fühlte sich wie eine Schauspielerin, deren Vorstellung vorbei war: der Vorhang
gefallen, die fremden Blicke fort und der Applaus verebbt. Selbst die Komplimente der Eltern war Paula leid: Du bist so süß, so nett, so schön, so
fleißig, so klug. Jetzt wollte sie durchatmen, da draußen in der Nacht. Sobald sie außer Reichweite der Kamera war, spuckte sie aus Spaß auf die Erde. Ging
schlapp, ließ die Arme hängen, schlurfte mit den Füßen, so lang sie wollte, wohin auch immer, endlich keine Anweisungen mehr: Geh so, geh dort, geh nicht
hier!
Zugleich hatte sie eine gemeine Lust an der Vorstellung, welchen Schrecken die Eltern bekommen würden. Weinen würden sie, klagen, keinen Schlaf finden, endlich quälten sie sich
mal selbst. Diese Rache würde unter anderen Bedingungen drei Tage dauern, dann käme sie zurück, es war da draußen doch recht ungemütlich. Aber ihre Flucht hatte einen
anderen, gewichtigen Grund, sie würde Monate fortbleiben müssen, um ein Problem loszuwerden und unversehrt wiederzukehren, so formulierte sie das für sich. Deshalb ging sie, deswegen
suchte sie Kontakte zu Fremden und vermisste ihr bequemes Zuhause schon, als sie noch in der Stadt war.
Paula fuhr mit dem Zug über Erfurt Richtung Westen, wo sie von einem Wildfremden erwartet wurde, der herzzerreißend mailen konnte. Hinein in eine Gegend, wo ein echter Menschenfresser
sein Opfer einst an demselben Bahnhof Wilhelmshöhe empfangen hatte, wo auch sie jetzt ausstieg und erwartet wurde.
Am Bahnsteig stand ein etwa vierzigjähriger Mann mit kugelrundem Bauch, Halbglatze, schmutzigen Fingern und ausgebeulter Cordhose. Paula hätte sich ihm nicht nähern dürfen,
sondern auf der Stelle in einen anderen Zug steigen müssen, durch irgendeine harmlose Innenstadt schlendern oder einen Flug in die Sonne buchen, wenn es nach ihren Eltern gegangen wäre.
Doch sie gab ihm die Hand und stieg in sein schäbiges Auto, weil die Gefahr ihr Spaß machte. Dieses Gefühl hatte sie lange nicht mehr empfunden, richtigen Spaß.
»Und ich hab Hunger.«
»Fahrn wir ’n Stück, auf’m Dorf essen ist billiger als inne Stadt.«
Sein Bauch sah aus, als hätte er einen Ball verschluckt. Sie fragte sich, wie Männer so was hinbekamen. Auch seinen Kopf fand sie unglaublich, er sah aus wie ein großes Ei, hatte
ganz oben auf der Spitze ein Büschel dunkler Haare, das strähnig auf seine Schulter fiel; so eine Type konnte man in einem Comic finden, aber nicht in der Wirklichkeit treffen, geschweige
denn mit der Figur nach Hause fahren.
Die Beifahrertür seines schrottreifen Opels schloss nicht ganz, Paula musste sie mit einem extra dafür angebrachten Strick zuhalten, während sie beide durch eine charmante
Parklandschaft stadtauswärts fuhren, über sanfte Waldhügel und weiter eine gerade Allee hinunter, dann am barocken Lustschloss eines Landgrafen vorbei und links ab hinein in ein
eintönig wirkendes Dorf.
Paula wunderte sich über den Westen, in den sie bis dahin nie gefahren war. Die Häuserfassaden schienen hier schmutziger als bei ihnen im Osten, der Putz bröckelte überall,
die Straßen hatten Schlaglöcher, eines größer als das andere, bei manchen Ampeln war das Glas eingeschlagen, einige Kanten der Bürgersteige waren abgebrochen und von
niemandem repariert worden. Die Augen des Mannes fixierten die Fahrbahn, während er sagte: »Du siehst gar nicht so aus wie auf’m Foto inner Mail.«
Das Gebäude, vor dem sie nun parkten, war mit billigen Fassadenplatten verkleidet, ein Werbebanner flatterte über dem Eingang, auf dem behauptet wurde, es handele sich
Weitere Kostenlose Bücher