Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
Gesicht und in die Ärmel. Die Rotation faltete das Blech des Deckels zuerst nach unten und verschloss die Dose dann fest. Nette ließ den Hebel los, trat vom
Pedal, schnaufte durch, bis dieser mühsame Ablauf erneut begann. Annie wiederum stapelte gemeinsam mit Opa die fertigen Konserven in riesige Einkocher, nun musste man sie nur noch
pasteurisieren, abkühlen lassen und später etikettieren.
Die Arbeiterinnen froren in der zugigen Scheune und trotzten Nette einen höheren Stundenlohn ab; den bekamen sie jeden Abend bar auf die Hand – der Sparkassenmann hatte dem
Geschäftsmodell tatsächlich Vertrauen geschenkt und einen kurzfristigen Kredit gewährt.
Nettes Finger rutschten häufig vom Hebel ab, schwollen mit der Zeit an und rieben sich während der Woche nach und nach blutig auf. Unter ihrer Gesichtshaut platzten durch die
Anstrengung kleine Äderchen, der Muskelkater in ihren Armen und Beinen wurde unerträglich. Am letzten Tag half Annie ihr, die schweren Dosen auf die Maschine und wieder herunter zu
hieven, und doch hielten alle bis zuletzt durch, schließlich lockte nach einer miserablen Ernte ein großartiger Profit. Nette träumte schon davon, diesen Geschäftszweig
auszubauen, noch andere Früchte einzukochen, einen Markennamen zu finden, wie wäre es mit Nette-Frucht? Sie hatte beinahe Freude an der Plackerei – die würde sich ja
lohnen – und verlor ihr gesundes Misstrauen, als wäre das Geld bereits auf dem Konto.
Die Ware wurde zum Abkühlen in der Garage gestapelt, einem leichten, einfachen Bau mit Wellblechdach, am Ende waren es sage und schreibe über fünftausend Stück.
Erschöpfter hatte Nette niemand zuvor gesehen, allerdings auch nicht stolzer. Immer wieder schaute sie sich ihr Werk an, fuhr mit der lädierten Hand über das Blech, als wäre es
weicher Nerz.
»Weihnachten sind wir in Griechenland, das sag ich dir, unter der Sonne.«
»Alle? Die Frauen auch?«
»Nein, nur wir drei, als Familie!«
»Richtig Urlaub?« Annie glaubte nicht daran.
Nette nahm sie in den Arm und summte ihr die Melodie zu einem Sirtaki ins Ohr. In diesem Moment wusste das Mädchen ganz sicher, dass es nie dazu kommen würde, es wäre zu
schön gewesen. Sie sollte recht behalten.
Genau eine Woche später brach die erste Dose mit Vollkaracho durch das Wellblech und flog wie eine Silvesterrakete etwa dreißig Meter schräg hoch in die Luft, wendete
schließlich, der Schwerkraft folgend, und landete aufgeplatzt im Nachbargarten zwischen Rosenkohl und Feldsalat; dick geschwollene Zwetschgen – doppelt so groß, wie sie
gewesen waren – lagen in den Beeten und auf dem Rasen. Zeternd kam die Nachbarin mit dem zerfetzten Metall herüber, Nette behielt die Ruhe, versuchte es zu erklären: Sie selbst
musste die Dose nicht richtig verschlossen haben, der Inhalt sei inzwischen gegoren, die Fäulnis habe Gase entwickelt, die den Druck erhöhten, man nenne das eine Bombage. Das hatte
zumindest in dem Heft Konserventechnisches Praktikum gestanden, aus dem sie auf die Schnelle ihr Wissen über das Einkochen geschöpft hatte.
»Eine von tausend Dosen im Schnitt, Bombagen sind ein normaler Verlust.«
Die Nachbarin ging brummend zurück, doch sie hatte ihre Haustür noch nicht geschlossen, da flog die nächste Dose hoch und schoss ein zweites Loch in das Garagendach. Opa war
beunruhigt, ging vor die Tür und schaute nach dem Rechten. Die dritte schlug gleich darauf in ein Gewächshaus ein, nun waren beide Nachbarn empört. Annie stellte sich zu Opa,
beobachtete bang, wie die vierte abzischte, die fünfte, die sechste, alle paar Minuten eine.
»Ich hab es gleich geahnt«, verriet sie ihm, »dass es schiefläuft, glaubst du mir das? Ich wusste es!«
»Das ist bei Nettes Angelegenheiten keine Kunst«, antwortete er.
Die Nachbarin lief zeternd zur Bushaltestelle. Eine zerplatzte Dose zum Beweis in der Hand, berichtete sie den auf der Bank rauchenden Bewohnern haarklein, was geschehen war. In Windeseile
sprach es sich herum, außerdem waren die Abschüsse zu hören, Gaffer aus dem gesamten Ort kamen gelaufen –, hatten sie ihre Handys zuerst noch am Ohr, um auch anderen
Bescheid zu geben, setzten sie diese bald als Kameras ein, um die Sensation aufzuzeichnen und in alle Welt zu verbreiten.
Nette dagegen blieb stocksteif am Küchentisch sitzen, hoffte, es würde nicht geschehen, was sie nicht sah – wie ein Kind, das sich die Hände vors Gesicht hält und
glaubt, so sei das Böse gebannt. Doch
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