Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
so?«
»Zu teuer.«
»Briefmarken.«
»Krieg ich Briefe?«
Er hielt sich bei seiner Volkskunst schlicht an Filzstifte, mit denen er zwei rote Herzen oder drei bunte Blumen auf die Eierschalen malte, Paula verzierte sie zuerst mit steifen Mustern, die
sie aus dem Geografieunterricht kannte. Später wagte sie sich an Wellen, die in immer bunteren Farben um das ganze Ei herum liefen. Sie konnte gar nicht genug davon bekommen, John Deere
pustete derweil seinen gesamten Eiervorrat aus.
»Und nun?«
»Warten.«
»Worauf?«
»Bis die Hühner wieder legen.«
»Und wann tun die das?«
»Wenn’s ihnen kommt halt.«
Er band einen Faden um ein kleines Stück Streichholz und stopfte es längs in die obere Öffnung. Innen legte es sich quer, und nun hing das Ei am Faden. Zum Schluss banden sie ihre
vermeintlichen Kunstwerke in die grüne Hecke an der Landstraße.
»Wie heißt du wirklich?«, fragte der Landmaschinenvertreter. »Und wo kommst du eigentlich her?«
»Ich heiße Ivanka, ich lebe neben einem Rasthaus an der A2 Richtung Hannover und helfe an der Tankstelle aus, die meine Eltern gepachtet haben.«
Sprach er sie dagegen mit Ivanka an, widersprach sie: »Ich heiße Janine.«
»Ja, was denn nun?«
»Bin aus Erfurt, mein Vater arbeitet beim Kinderkanal.«
»Sieht man den im Fernsehen?«
»Er macht den Ton.«
»Dann geh mal lieber nach Hause, der wartet bestimmt auf dich.«
»Du bist doch mein richtiger Vater.«
Das Spiel behagte ihm immer weniger, die Leute tuschelten, auf dem Land war die Kommunikation schon seit Jahrhunderten drahtlos, und Neuigkeiten verbreiteten sich über
Bushalte-Schaltstellen in alle Haushalte. Paulas Düfte im Badezimmer irritierten ihn mehr und mehr, es sollte niemand auf dumme Gedanken kommen, er war ein mit Schlamm und Schmieröl
verdreckter Kerl, aber ein durch und durch anständiger Mann.
»Hör mal, du bist ja noch nicht volljährig, wir gehen zum Jugendamt, die werden dir helfen. Ich kenne da einen, der war früher mit mir in einer Klasse. Du musst dir keine Gedanken machen. Aber ich mache mir welche, weil die Leute sonst meinen, ich hab was mit so ’m jungen Gemüse wie
dir.«
In den Wochen bei ihm war Paula dicker geworden. Es wird der Vanillepudding gewesen sein, dachte sie, den kochte er jeden Tag, weil sie verrückt danach war. Sie hatte sich damit von innen
zu trösten versucht. Von außen hatten sie wunderbare Lagerfeuer gewärmt, täglich wollte sie eines, und wie ihr persönlicher Heinzelmann vom Dienst klaubte John Deere Abend
für Abend Holzscheite zusammen und zündete sie an einer dafür vorgesehenen Stelle im Garten an.
»Vermisst dich denn keiner?«
Paula tat, als habe sie diese Frage nicht gehört, doch sie begriff, dass er nicht länger mitmachte, dass dies ihr letzter Abend bei ihm sein würde.
Am folgenden Tag putzte er sich die Zähne, zog eine saubere Jacke an und fuhr ohne Erklärung fort. Nur eine Stunde später brach Paula auf, nicht ohne ihre Eierhecke ein letztes
Mal stolz zu betrachten. Sie ging die Landstraße zurück in Richtung Schloss und Stadt und nahm sich vor, am Bahnhof ein anderes Ziel zu suchen und sich zunächst irgendwo in einem
hübschen Hotel einzuquartieren. Bis ihr schlagartig klar wurde, dass man sie finden würde, wenn sie mit ihrer Kreditkarte zahlte, das hatte sie nicht bedacht.
Daheim war Geld bloß Papier und immer vorhanden gewesen. Man nahm es sich, kaufte etwas damit, keiner fragte danach. Nun war es für sie zum ersten Mal ein Zahlungsmittel und stand
nicht zur Verfügung. So irrte sie in Annies Gegend herum, durch die erbarmungslose hochsommerliche Sonne, bis ihre Haut brannte. Sie war matt, trug schwer an ihrem Gewicht, trank aus
Bächen, bekam Hunger und hatte nichts, um ihn zu stillen, verlor zuletzt in einem Waldgebiet die Orientierung und wartete schließlich darauf, dass sich etwas änderte. Diesmal wollte
sie, dass man sie fand, nur ging das nicht mehr so leicht wie früher. Den Chip hatte sie selbst entfernt.
ALLEIN
S eit Tagen war Annie die Einzige, die sich in der Plantage aufhielt. Weder Opa noch Mutter prüften, ob man mit der Ernte beginnen konnte,
seine lustvolle Liebe und ihre lustlose Verzweiflung ließen kein gewöhnliches Alltagsleben mehr zu. Ein Kirschbauer kann genau einschätzen, wann die Frucht schwer genug ist, um
gepflückt zu werden, und doch nicht so schwer, als dass sie vorzeitig vom Baum fiele. Ende Juli war es gewöhnlich so weit, meist um den dreißigsten, mal
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