Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
rutschte weiter ins Minus, und der Mann von der Sparkasse hörte auf, Nette zu grüßen. Die wiederum platzte fast wie eine zu
dünnhäutige Kirsche im Regen. Die Geschichte der neuen Liebe des alten Mannes zu dem Mädchen machte sie sogar noch wütender als die Sache mit dem Bonanza-Rad und die mit dem
Schreien im Kinderwagen zusammen. Annie durfte den Namen Ninotschka nicht mal mehr wie Nntsch aussprechen, sonst bekam ihre Mutter
eine ungesunde Farbe im Gesicht; sie gewöhnte sich daher an, den neuen Besuch in Gegenwart ihrer Mutter N zu nennen.
Ninotschka hatte dunkle lange Zöpfe, die sie auf dem Kopf zu einem hübschen Kranz zusammensteckte. Nette vermochte das schlichte Wort Zöpfe nun auch nicht mehr fehlerfrei
auszusprechen, sondern sagte, wenn es Ninotschkas waren: Zzz... Ö... P... F... ÄÄ!!! Sie brüllte und schrie dieses Wort auf der Toilette, in der
Speisekammer und beim Zwiebelschneiden, obwohl es nur eine Frisur bezeichnete. Das Leben im Haus wurde ungemütlich, Nette steigerte sich in die Geschichte hinein, die Schlampe habe so ’ ne Möpse, wie die kleinen Hunde, die aussähen, als wären sie mit der
Schnauze gegen die Wand gelaufen.
Annie schlich sich in Opas Zimmer – obgleich ihre Mutter ihr jeden Kontakt mit N verboten hatte – und fragte sie geradeheraus, ob sie mit ihren Brüsten mal vor
irgendwas gelaufen sei. Ninotschka antwortete in derart schlechtem Deutsch, dass man sich fragen musste, wie Opa mit ihr hatte mailen können. Sie hatte ungewöhnliche Augen, eines hellblau
mit einem dunklen Kreis drum herum, das andere grün. Statt weiterzusprechen, sang sie Annie ein Kinderlied vor, Bajuschki Baju , bei dem Opa scheinbar gut
einschlafen konnte.
Der hatte Annie weismachen wollen, dass ausgerechnet seine Ninotschka Königin von Kiew hätte werden sollen, aber es habe Probleme gegeben, weil ihr einzigartiges Lächeln das Eis
im Osten habe schmelzen lassen. Ihre Möpse , er nannte ihre Brüste selbst so, seien wegen ihrer inneren Wärme eine Gefahr für die ganze Ukraine
geworden, Ninotschka habe aus Liebe zum Land auf den Thron verzichtet, ihre Heimat verlassen und war ausgerechnet an ihn geraten, der nun dahinschmelze.
Kaum erzählte Annie in aller Ruhe ihrer Mutter, N sei eigentlich eine Prinzessin und kenne schöne Babylieder, benutzte Nette Ausdrücke, die sie ihrer Tochter nicht erlaubte. Sie
stampfte auf, sank danach in sich zusammen, weinte, die Knie auf dem Boden, den Kopf im Schoß, den Rücken gekrümmt. So ging das Mädchen aus dem Raum und traf auf ihren Opa, der
sie gerührt in die Arme nahm und schluchzte, seine beste Ernte im Leben sei Ninotschkas warmer Körper gewesen, seine Zeit als Schattenmorelle sei vorbei.
MANN
P aula hatte laut aufgelacht, als die Haustür des fremden Mannes hinter ihr ins Schloss fiel. So müssen die Albträume ihrer
ängstlichen Eltern ausgesehen haben: ihr Mädchen allein im verschlossenen Haus eines erbärmlichen Kerls, die elektronische Nabelschnur durchtrennt. Ohne Chip unter der Haut, ohne
Handy, jeder Möglichkeit beraubt, geortet zu werden oder selbst einen Hilferuf zu senden.
Mit ihren großen offenen Fenstern hatte man die schwatzhaften Leute geradezu herausgefordert: Schaut getrost herein, bei uns ist alles in Ordnung, wir haben nichts zu verbergen.
Hier bei diesem Schlamper konnte dagegen niemand hereinsehen, seine Scheiben waren seit Langem nicht geputzt worden. Paula betrachtete im Wohnzimmer einen Wandbehang, der wie graubrauner Filz
aussah mit einer Art Umrandung, ein Ornament sich überschlagender Wellen. An Waschbecken und Wanne im Bad klebten knorpelartige Verdickungen – es konnte sich um altes Fett oder
Schmutz handeln, sie war sich nicht sicher. Seine Küchentür hing schief, die Schränke waren aus rohen Spanplatten zusammengezimmert. Es vergnügte sie geradezu, es endlich einmal
himmelschreiend hässlich und gefährlich zu haben. Was wäre nun nicht alles möglich? Wenn er die Haustür verschließen und den Schlüssel einstecken würde,
seine fiesen Finger sie berührten? Sie grinste bei diesem Gedanken, weil sie die Gefahr nicht begriff, sondern stattdessen Genugtuung empfand, als sie sich die gellenden Schreie ihrer Eltern
vorstellte: Rühr unsere Kleine nicht an!
Sie wollte auf alles eingehen, bloß um von ihren Sorgen abgelenkt zu sein.
Der Mann hatte seine Jacke ausgezogen und gegen einen Norwegerpullover aus Kunstfasern getauscht, sie stand noch immer mit ihrer Daunenjacke da, hatte
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