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Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Titel: Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Schreiber
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sich zusammengereimt, ihr Netzwerk käme als Erntehelfer, Arbeitsbienen gewissermaßen, die in Ruhe und gebotener Umsicht empfindlich-saftige Sauerkirschen pflücken
würden – falsch gedacht. Stattdessen torkelten die virtuellen Freunde bekifft und angetrunken heran und nahmen zuerst mal belustigt den Zaun ins Visier.
    Zu ihrer Unterhaltung hatten sie Lastwagen an den Rand der Plantage gestellt, bestückt mit Lautsprechern, die so groß waren wie die Flachbildschirme der Ortsbewohner. Die Bässe
wummerten, dass man ihre Wucht im Magen spüren konnte. Sie ließen Geräusche dröhnen, wie sie hier nie zuvor gehört worden waren. Der Flashmob machte sich schließlich
wie ägyptische Heuschrecken über die Plantage her, es sollte nur fünfzehn Minuten dauern.
    Die Leute aus dem Ort waren von dem Verkehrschaos und dem Krach angelockt worden, nun glotzten sie staunend und schüchtern zugleich, fotografierten und filmten für daheim oder YouTube , prosteten sich zu und lachten laut.
    Einzig die Bäckerin hatte an die Kirschbauern gedacht, trommelte nun panisch an deren Haustür, klingelte Sturm, rief, es geschehe was, ein Überfall von Vandalen. Das schwache
Mädchen erwachte und erschrak ein zweites Mal. Sie solle liegen bleiben und keinen Ton von sich geben, bedeutete ihr Annie.
    »Ich kann gerade nicht«, rief sie durch die Tür.
    »Die Plantage geht drauf!«, schrie die Bäckerin. »Kind, deine Bäume sterben.«
    »Ich habe mir die Kirschen abgewöhnt.«
    »Wenn du nicht kommst, rufe ich die Polizei!«
    Da sah sich Annie genötigt, ihren Gast kurz zu verlassen.
    »Ich komme wieder.«
    Paula starrte sie an, bald wahnsinnig vor Angst.
    Als die beiden die Plantage erreichten, war der Anblick, der sich ihnen bot, verheerend. Der Zaun war in seiner gesamten Länge eingetreten, wahrscheinlich waren alle vier
Abgrenzungen betroffen, kilometerlang. Die Fremden randalierten an jedem einzelnen Baum, sie rissen die reifen Früchte beliebig ab und warfen sie auf den Erdboden oder zerquetschten sie und
bekleckerten sich und die anderen damit, Hemden, Haare, Münder oder Körper. Sie knickten die Äste oder brachen sie ab, rissen an den dünnen und traten die dickeren
ein – und zwar nicht wenige, sondern alle.
    Es war der erste und spektakulärste Flashmob, der in dieser Gegend stattfand, und wer ihn nicht mit eigenen Augen gesehen hat, kann sich die Geschichte noch heute an Bushaltestellen
erzählen lassen.
    Annie betrachtete das alles und schwieg dazu, ja, man konnte glauben, sie lächele gar. Die Bäckerin dagegen brüllte die Meute an, aber niemand hörte ihr zu. Sie kramte nach
ihrem Handy, wollte die Polizei verständigen: »Denk an die Versicherung, dafür brauchst du ein Protokoll!«
    Doch das Mädchen schüttelte den Kopf: »So was haben wir schon lange nicht mehr, eine Versicherung.«
    »Diese Leute haften, sie richten ja den Schaden an!«
    Die Masse fremder Menschen verschwand so schnell, wie sie gekommen war, als hätte jemand ein Kommando gegeben. Sie haben sich vorher nicht gekannt und werden sich später nie mehr in
dieser Konstellation begegnen.
    Die Bäckerin packte ihr Handy wieder ein: »Zu spät.«
    Die Einheimischen steckten ihre Köpfe zusammen und ließen sich von ihr erklären, was für eine Horde das gewesen war, die da die Ernte verdorben hatte. Die Bäckerin
wusste zwar nichts, brachte aber dennoch Fritzi ins Gespräch.
    Annie war, als werde sie in diesem Augenblick in Gedanken etwa hundert Meter in die Luft gehoben, um sich das alles von oben ansehen zu dürfen, wie aus einem Heißluftballon. Sie sah
ihren Feldweg als gerade grüne Linie, die Äcker grau wie Schiefer mit verschmierten Flecken, auf manchen zeichneten winzige Linien die Spuren der Traktoren nach, und, kaum zu sehen, war
da dieser eine kleine dunkle Punkt am Rand der Kirschplantage, wie Fliegendreck sah er aus. Den brachte sie nun in Bewegung, ein Gedankenspiel: Bisher, so wurde Annie klar, hatte sie sich wie ein
Eisensplitter nach der Anziehungskraft ihrer Erwachsenen ausrichten müssen, nach ihren Launen, ihren Wünschen, ihren Vorstellungen, als wäre sie die Nadel eines Kompasses. Nun war
das endlich vorbei, die Kirschen lagen auf dem Boden, Opa und Nette waren eh nicht da. Sie würde sich in Zukunft dorthin drehen, wohin sie wollte. Der Punkt zwischen den Feldern bewegte sich
nach ihren Anweisungen, nach links, rechts und anschließend im Kreis, wie es ihr behagte. Dann fühlte es sich an, als würde sie vorsichtig

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