Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
heruntergelassen. Sie streckte sich und
gähnte, stand wieder am Weg, neben der Bäckerin, zufriedener denn je.
Die Ernte war nachhaltiger zerstört, als der schlimmste Hagelschlag es zuwege gebracht hätte. Es sollte der einzige Tag in der Geschichte dieses vermaledeiten Ortes
werden, an dem das Gewerbegebiet endlich mal zugeparkt war. Weitere Autos ließen auf dem Sportplatzacker Spurrillen zurück, die so tief waren, dass der FC Wolke Null Sechs eine lange
Spielpause einlegen musste, der Rasen war nicht mehr bespielbar.
Fritzi fand als Erste ihre Worte wieder: »boh wahnsinn eh, nur noch kerne da.«
Im Netz wurde der Flashmob CHERRY - FLY - DAY genannt, Ziel dieser Aktion war es angeblich gewesen, der von »kommerzieller Ausbeutung bedrohten Kirschplantage« ein neues Gesicht zu
geben. Fritzi begriff schon nicht, was das Wort kommerziell bedeutete, Annie musste beinahe grinsen: »Was hast du da nur angestellt?«
Sie ließ Fritzi bei der Länge ihrer Fingernägel, die ihr wertvoller waren als das Leben ihrer Großmutter, schwören, dass das nie wieder passieren würde.
Als eine engagierte Lokalreporterin bei dem Veranstalter von CHERRY - FLY - DAY nachfragte, wollte kein Verantwortlicher jemals etwas von einer Fritzi gehört haben, sie hatte demnach offiziell
mit der Initiative überhaupt nichts zu tun, obwohl sie diese selbst initiiert hatte.
»also die kerne ne.« Fritzi atmete schuldbewusst tief durch: »kannste da was mit machen?«
»Ich kann sie verkaufen.«
»ja ne. wohin dann?«
»Wenn du sie allesamt aufsammelst.«
Fritzi ließ ihren Blick über die Plantage schweifen: »wie viel stück sinnen das?«
»Millionen. Das bedeutet für dich, Millionen mal bücken.«
»boh ey verdammt.«
»Man trocknet sie und näht sie in kleine Säckchen, dann wärmt man sie in einer Mikrowelle und legt sie sich in den Nacken oder auf den kranken Bauch.«
»kerne jetz?«, stöhnte sie. »million mal.«
»Es gibt noch jemanden, der Kerne kauft.«
»wer nimmt se noch?« Fritzi schöpfte Hoffnung.
»Das Kernkraftwerk.«
»ach, echt? gibts gut kohle?«
»Strom.«
»aber isch million ma bücken, eh? nee!«
Annie ging den Weg von der Plantage zurück zum Haus, die Ortsbewohner stürmten auf sie ein, hielten sie auf und fragten, was geschehen sei und weshalb, wo eigentlich Nette hingefahren
sei, und der Opa, und was nun werden würde. Der Kauer, der Bäcker, der mit der Bohne, Uli, sogar sein Sohn, der Onkel, alle. Annie ließ sie stehen. Nur der Apotheker fehlte, er war
kein Gaffer.
Auf diesem Feldweg, den sie tausendmal gegangen war, fühlte Annie sich wohl, ihr Ziel war daheim, dort wartete jemand, der sie dringender brauchte als jede Plantage.
ANKUNFT
S ie gab keinen Ton von sich, und doch sah man ihr die Erleichterung darüber an, dass sie nicht länger allein sein musste.
»Ich heiße Annie, und wenn du mir deinen Namen nicht sagst, bekommst du keine Bohnen und kein Gebäck mehr.«
»Paula.«
»Wie alt bist du denn?«
»Sechzehn.«
»Und wo bist du zu Hause? Soll ich da mal anrufen? Oder du? Dass man dich abholen kommt?«
Die Fremde schüttelte bloß den Kopf und schloss die Augen.
»Aber dir gehts so weit gut, oder?«
Paula antwortete nicht. In den nächsten Stunden schien es ihr extrem wechselhaft zu gehen. Einmal hatte sie Schmerzen, dann plötzlich war sie ruhig, dann wieder unruhig. Annie
erinnerte Paulas Zustand an das Hin und Her, das sie in ihrer Plantage Jahr für Jahr durchgemacht hatte: gespannt anschleichen, entspannt zurückmarschieren. Deshalb war sie lange
unschlüssig, ob ihrem Gast etwas wehtat oder nicht, ob sie was wollte oder nicht, ob sie nun jemanden zu Hilfe holen sollte oder nicht.
Einmal jaulte die Fremde auf, dann plötzlich wollte sie etwas essen, einmal atmete sie gequält, dann plötzlich fragte sie ganz ruhig, ob man sie zum Bahnhof bringen
könne.
»Ich würde mich an deiner Stelle abholen lassen. Wohin willst du denn?«
Doch Paula winkte nur ab. Später sagte sie in aller Ruhe, sie wohne im Osten, hielt sich gleich wieder stöhnend am Bett fest, ließ sich gehen und tat, als wäre Annie nicht
da.
Die plauderte zur Beruhigung und Ablenkung von der Plantage, von ihrer Trommel, die ihr um den Bauch gebunden worden war, vom Hin und Her, das auch sie kenne, vom Flashmob und von Fritzi, womit
sie ihren Gast wahrhaftig kurz zum Lächeln brachte.
Paula fühlte sich für Minuten nicht gut, murmelte selbst irgendwelche Zauberformeln, Heidnisches oder
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