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Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Titel: Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Schreiber
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wie Paula gewünscht, allerdings gesund und zufrieden. Sprechend statt stöhnend. Andere Mädchen hatten doch auch Freundinnen, liehen sich
gegenseitig Sachen und gingen gemeinsam ins Kino statt aufs Klo. Und wenn schon dahin, dann um sich zu schminken und über Jungs zu tuscheln. Annie schien es, als würde sie nie etwas
Normales erleben, sondern immer nur großen Ärger haben oder besonderes Glück. Inzwischen war sie an ihrer Haustür angekommen, aber es widerstrebte ihr hineinzugehen. Sie
könnte in der Hütte übernachten, das Mädchen war ja beinahe erwachsen und konnte den Krankenwagen selber rufen.
    Annie fühlte sich so allein, dass sie in diesem Moment lieber nicht darüber nachdenken wollte, wie allein sie wirklich war.
    »Was soll ich tun?«, murmelte sie.
    Für die größten Nöte gab es die kürzesten Telefonnummern, eine von denen sollte sie nun wählen, doch sie zögerte. Man würde nicht nur die Kranke abholen,
sondern auch sie selbst. Es gab jede Menge trauriger Häuser im Land, die Problemfälle sammelten, und Kinder ohne Erwachsene gehörten ohnehin in die Obhut anderer. Sie würde das
Letzte opfern müssen, was sie hatte, ihre Freiheit, es nutzte nichts.
    Annie ging ins Haus, das Mädchen war nicht mehr im Bad, es hatte sich inzwischen wieder zum Fensterbrett geschleppt, seine Haare glänzten feucht.
    Zärtlich sprach Annie es an: »Hör zu, ich werde Hilfe holen. Einen Arzt, ja? Versteh das.«
    Da packte Paula sie blitzartig und grub ihr die Fingernägel ins Handgelenk, bis sie jaulte, nach Worten ringend: »Kein Mensch!«
    Annie nickte schmerzverzerrt, in ihrem Unterarm waren vier kleine Löcher zu sehen, als hätte eine Raubkatze zugeschlagen, bestimmt würden Narben zurückbleiben, so tief waren
deren Krallen eingedrungen.
    Von nun an war es wie Seifenkistenrennen, es gab keine Bremse, keinen Rückwärtsgang, es ging nur immer weiter. Es gab keine Gelegenheit mehr für Annie, zum
Telefon zu greifen. Keine Chance für Paula, es sich anders zu überlegen. Sie schrie und schrie, umschlang schließlich Annies Nacken mit beiden Armen, ließ sich langsam sinken
und hängte ihr ganzes Gewicht an die andere. Die zitterte und weinte, weil ihr das Verhalten des Mädchens unheimlich war und sie ängstigte; zugleich hatte sie das Gefühl, ihr
Hals werde brechen. Paula presste sich an Annies Körper, die jetzt erst fühlte, wie hart der Bauch der anderen war, wie groß. Nun sackte deren Gesicht an ihre Brust, Paula seufzte,
ihr Atem war spürbar heiß, dann jaulte sie wieder herzerweichend vor Schmerzen. Sie schnappte tief nach Luft, schrie ein letztes Mal unfassbar laut, ließ Annies Nacken los und sank
mit ihrem ganzen Körper auf den Boden, klappte regelrecht zusammen und bat wimmernd um Hilfe, um Entschuldigung.
    »Bitte, bitte, bitte!« Mit einem Mal weinte sie nicht mehr, hörte auf zu betteln, lag beinahe erleichtert da und schnaufte. Plötzlich war alles ruhig.
    Annie hätte staunen können oder fluchen vielleicht, oder irgendeinen Mist machen, kichern oder an ihren Haaren spielen, etwas, das sie sonst immer so machte in Momenten, die sie
überforderten. Doch sie tat nichts dergleichen. Sie schaute hin, sie sah es und kapierte es nicht.
    Das blutig feuchte Etwas neben Paula hätte sich bewegen sollen, so wie es gebaut war, es bewegte sich aber nicht. Annies Augen erkannten deutlich jedes Detail, dunkelblau war es mit
schmierigen Flecken und Gliedmaßen. Das Bild von einem kleinen Körper, der nicht atmete, kam oben in ihren Furchen und Windungen nicht an. Stattdessen spuckte ihr Gehirn die Textaufgabe
von Ulis Sohn heraus, exakt den Ansatz 2x + 4y = 96 und x + y = 35, dazu eine Liedzeile von ihrer Konfirmation: Kommet zuhauf. Psalter und Harfe, wacht auf . Beinahe
eine ganze Minute dauerte ihr Schock, sie starrte bloß weiter, ohne zu begreifen, dass sie kurz vor einer Katastrophe stand, wenn sie nicht handelte.
    Dann kniete sie endlich nieder, berührte den feuchten Leib mit der Spitze des Zeigefingers, nahm ihn in beide Hände, drehte die knapp drei Kilo um, wie betäubt, ohne jede Angst.
Der Schäfer hatte es getan, der Milchbauer auch, sie hatte es bei Kätzchen gesehen, doch dieser Winzling hier regte sich nicht. So legte sie diesen leblosen Packen mit der Brust nach
unten auf ihren linken Unterarm und klopfte mit der rechten Hand kräftig zwischen die Schulterblätter, noch mal, noch und noch mal. Da fühlte es sich nicht mehr nur nach Fleisch an,
sondern rasselte, zuckte

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