Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
Es gab so viele ungeklärte Fragen, die konnten unmöglich allesamt auf dem Klo gelöst
werden, und doch war das ein guter Ort zum Nachdenken.
Ich muss wieder zurück in die Plantage, dachte sie, sonst bricht an mir noch mehr als bloß Nägel.
Sie beendete ihren Toilettenbesuch und ging in den Warteraum zurück. Die Luft im Polizeipräsidium kam ihr sehr schlecht vor, darum bat sie ihre Aufpasserin, spazieren gehen zu
dürfen, aber sie durfte nicht mal die Fenster öffnen.
»Was habt ihr alle gegen frische Luft?«
»Die Klimaanlage funktioniert nicht bei geöffneten Fenstern.«
Annie schnupperte genervt die aufwendig gereinigte Ersatzluft, die sie hier atmen musste, ohne sich erfrischt zu fühlen.
Die Beamten waren in drei Polizeiwagen mit Blaulicht losgefahren, hatten das Zweitgeborene in der Waschküche gefunden und untersucht. Nach zwei zähen Stunden wurde einer inzwischen
sehr ermatteten Annie mitgeteilt, es sei nie lebendig, sondern ein Kuchen gewesen.
Sie runzelte die Stirn: »Das kapiere ich nun überhaupt gar nicht, wie einer so was futtern kann, ja, hör mir auf!«
Der Tag hatte sich grauenhaft lang hingezogen, all die Gespräche kamen Annie wie Vorwürfe vor, sie war ja nicht mal vierzehn – großer Gott! Sie hatte es ganz
vergessen –, erschrocken fragte sie: »Was haben wir heute für einen Tag?«
»Das weißt du nicht?«
Nun hielt man sie endgültig für verwirrt. Annie schüttelte den Kopf, sie wollte keine Diskussion über ihr Gedächtnis und ihre Stimmung.
»Hatte zu viel um die Ohren, welches Datum, bitte.«
»Heute ist der siebte August.«
»Ein Geburtstagskuchen!«, schrie sie da und sprang auf, lief von einer Wand zur anderen und wieder zurück. Sie hätte jetzt wahnsinnig gern getrommelt und geschrien. Wie
konnte sie ihren eigenen Geburtstag vergessen, dazu so einen wichtigen?
»Ich bin heute vierzehn geworden! Habt ihr ein Geschenk für mich?«
Die Polizisten verweigerten die Aussage. Annie lachte sich unterdessen krank, weil sie so allein war und müde und den sonderbarsten Geburtstagskuchen hatte, den man sich vorstellen kann,
und weil keine Nette, kein Opa, kein Apotheker, kein Galle, keine Bäckerin und keine Fritzi mit ihr feierten.
Sie setzte sich zurück an den Tisch und musste sich eilig entscheiden zwischen Weinen und Witze reißen.
»Ich kannte mal einen«, beim Erzählen gestikulierte Annie jetzt wild mit Händen und Füßen, »der ist von einer Kuh erschlagen worden, wie gesagt, nicht
totgetreten, sondern im wahrsten Sinne des Wortes erschlagen.«
Sie betrachtete ihre beiden Kommissare, die die Stirn runzelten. Hätte ein Schauspieler diese Geschichte auf einer Bühne unter Scheinwerfern präsentiert, sie wären
entzückt gewesen. Annie aber kam ihnen komisch vor – das war der Unterschied, je nachdem, ob man für eine gute Geschichte Eintritt bezahlte oder nicht.
»Von einer Kuh erschlagen«, grölte Annie. »Das muss man sich mal bildlich vorstellen! Der ganze Kuhkörper drauf, von oben. Und hat ihn platt gemacht, tot, sofort.
Klar.«
Da fragte Ludmilla skeptisch: »Seit wann fliegen Kühe?«
»Auch die russische Polizei stand vor einem Rätsel«, gluckste Annie. »Es war ein Bauer aus Sibirien, und darauf lag die Kuh. So hat man beide Leichen vorgefunden. Die
Frage ist, wie konnte das passieren?«
Ludmilla hob ihre künstlichen Augenbrauen und tat so, als hörte sie weiter aufmerksam zu. Doch Schorschi griff zum Hörer, behielt das Mädchen im Auge und wählte zugleich
eine Nummer.
»Am Ende haben sie es rausgekriegt. Ein russisches Frachtflugzeug hatte fünfzig lebende Kühe geladen. Die sind auf dem Transport unruhig geworden, haben sich losgerissen und im
Laderaum getobt, das Flugzeug kam in Schieflage.«
Freundlich legte Ludmilla Annie eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Kind.«
Aber es zeigte keine Wirkung: »Der Pilot musste handeln, Menschen sind schließlich wichtiger als Tiere, er hat also die Ladeluke im Flug geöffnet und die Kühe einfach
über Sibirien rausfallen lassen. Fertig! Flugzeug gerettet, Tiere weg. Aber eine Kuh, zack, zufällig genau drauf auf den Bauern in der Steppe.«
Im Flur war Unruhe zu hören, Schritte näherten sich, es schien mehr als eine Person zu sein. Das Geburtstagskind redete unermüdlich weiter: »Stellen Sie sich vor, die Witwe.
Woran ist denn Ihr Mann gestorben, das fragen doch alle, weil sie sonst nichts zu fragen wissen, wenn einer
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