Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Titel: Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Schreiber
Vom Netzwerk:
gestorben ist. Der hätte auch im Lotto gewinnen können, mit dieser
unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeit, oder den Präsidenten zum Schwager haben können. Ne? Das hätte ihm genutzt, aber dieser Bauer hatte sich mit seinem Zufall einen Riesenmist
ausgesucht.«
    Nun kamen zwei Polizistinnen in Uniform herein und packten Annie unter den Armen, zerrten sie regelrecht weg, sie wehrte sich und rangelte mit ihnen.
    »Und die fliegende Kuh erst, wann fliegt schon eine Kuh?«, rief sie Schorschi und Ludmilla zu, die beharrlich schwiegen.
    Niemand hatte ihr gedankt, dass sie ein oder gar zwei Leben gerettet hatte. Annie war außer sich darüber, abgeführt zu werden. Und wie konnte man sich so beschissen anmalen wie
Ludmilla? Nie im Leben wollte sie später so aussehen wie diese zugetünchte Frau, sagte der das keiner? Nette schminkte sich, wenn sie sich gut fühlte, aber sie vermalte sich nicht
dabei. Annie brauchte ihre Mutter zurück, und sie musste Galle beistehen, der Schuhe verbrannte. Sie wollte heim: »Mutti!« So hatte sie Nette noch nie genannt, aber nun schrie sie
verzweifelt im Flur: »Mutti! Muuuutti.« Doch Nette hörte sie nicht. Wie sollte sie auch? Sie befand sich mit Depression in Griechenland.

HEIM
    M an brachte Annie zu Leuten, die beim ersten Handschlag auf Freundschaft machten, obwohl man sich nicht kannte; in ein Haus, in das man sie
einsperrte, ohne dass ein hoher Zaun dafür nötig war, sondern einzig straffe Regeln. Sie bemerkte, dass hier hübschere Möbel standen als in der Schule, dass in den Toiletten
Seife und Handtücher waren, die Räume hell und aufgeräumt. Eine Verschließmaschine war das, und man pferchte sie hier ein mit dünnen Bohnenstangen, sie durfte sich nicht
frei bewegen, Deckel drauf, kein süßer Pfirsich weit und breit. Sie musste dreimal täglich zu festgesetzten Zeiten essen, durfte nichts spontan unternehmen, geschweige denn mit
Pistolen über Felder ballern, brüllen, trommeln und nach Hühnerkacke stinken.
    In ihrem aufgeräumten Zimmer ohne Tarnnetz würde sie nicht bleiben können, das war Annie vom ersten Augenblick an klar. Es war halb so groß wie ihre Hütte in der
Plantage, wenige Meter vor ihrem Fenster war die kahle Wand eines anderen Gebäudes. Sie hatte keinen Ausblick, dabei war sie gewohnt, kilometerweit ins Grüne sehen zu können.
    Die Luft im Haus stank künstlich und giftig, nach frisch gestrichenen Wänden und Böden aus der Chemiefabrik. Es gab weder singende noch fressende Vögel hier, keine
raschelnden Mäuse, kein Moos und nirgendwo summende Fliegen oder Bienen. Kein Wurm oder Käfer kroch oder krabbelte die Tapete hinauf, kein Bach gluckerte, und kein schaukelnder Ast. Die
dahinziehenden Wolken konnten sie nicht beruhigen, weil ihr der freie Blick gen Himmel verstellt war. Die Ordnung überall verstörte sie und die klinische Sauberkeit.
    Sonst war sie jeden Tag viele Kilometer marschiert, jetzt lief sie nur vom Zimmer über den Flur zum Klo und zurück. Man hatte ihr zum Ausgleich ein Laufband vor einem riesigen Spiegel
angeboten, dort war Annie einige Kilometer gelaufen und hatte sich selbst betrachtet wie einen Hamster im Rad. Deshalb stoppte sie den Motor schließlich und hätte vor unterdrücktem
Übermut beinahe die Tapete abgekratzt oder sonst wie randaliert. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie bald so schief gewickelt sein wie alle hier, ins Klo kotzen, sich in die Haut ritzen
oder die Fingerkuppen verbrennen. Lieber klopfte sie mit dem Hinterkopf gegen die Wand, damit ein Mitgefangener von ihr erfuhr, falls er die Flucht plante: Ich bin hier, ich bin hier, ich bin hier,
ich bin hier. Das beruhigte sie erstaunlicherweise tatsächlich. Also dachte sie weiter über alles nach und schlug mit ihrem Kopf gemütlich den Rhythmus dazu: Net-te, Net-te,
Net-te.
    Eine Erzieherin wollte sich um sie kümmern, doch das war Annie nicht geheuer. Sie ließ sich auf kein persönliches Gespräch ein, sondern registrierte lediglich, dass das ihr
zugewiesene Zimmer die Nummer 116 hatte, ihr Schlüssel für den Spind hielt der Hausmeister bereit, Sprechzeiten 15-17 Uhr. Frühstück um acht, Mittag um eins, Abend um sechs. Wir
wollen uns die Hände reichen, piep piep piep, guten Appetit. Jeder esse, was er kann, nur nicht seinen Nebenmann. Zicke zacke, zicke zacke, heu heu heu.
    Annie kooperierte gut, integrierte sich, malte mit bunten Farben, sie spielte in der Musikgruppe das Xylophon. Trommeln wollte sie nicht – je leiser, desto

Weitere Kostenlose Bücher