Sueße Kuesse nur aus Rache
schattenhaft, rätselhaft, beunruhigend.
Warum gerade dieser Mann?
Das Echo kam aus ihrem Herzen. Warum gerade dieser?
In dieser Nacht träumte sie wirr und aufwühlend, angefeuert von den leidenschaftlichen Klängen Rachmaninoffs. Das Echo dieser Musik klang beim Erwachen noch nach, als sie Angelos zögernd am Frühstückstisch Gesellschaft leistete. Statt des üblichen Anzugs trug er einen grauen Kaschmirpullover, der ihm einen völlig anderen Ausdruck verlieh.
„Heute“, kündigte er an, „werden wir Genf wieder verlassen. Ich möchte gleich nach dem Frühstück aufbrechen. Bitte packen Sie bis dahin.“ Dann goss er sich noch einen Kaffee ein.
Sie vermied es, ihn nach ihrem nächsten Reiseziel zu fragen. Hochrangige Geschäftsleute wie er reisten schließlich ständig um die Welt. Deshalb ging sie davon aus, dass der Privatjet schon auf dem Flugfeld bereitstehen würde.
Doch vor dem Hotel parkte diesmal nicht die Luxuslimousine mit den dunklen Scheiben, sondern ein schnittiger, niedriger Sportwagen. Der Portier half zunächst Thea einzusteigen und hielt dann Angelos die Fahrertür auf. Thea ließ sich auf den weichen Sitz fallen. Was hatte das zu bedeuten? Doch sie schwieg. Genau wie er, als sie die Stadt verließen und in der Ferne hohe Berge aufragten.
Auf den Gipfeln lag noch Schnee. Die blendende Sonne ließ ihn funkeln, tauchte die Almen in sattes Grün und versah die Kiefernwälder mit einem dunklen Glanz. Die dramatische Landschaft lenkte Thea ein wenig von Angelos’ Anwesenheit ab. Doch aus dem Augenwinkel bemerkte sie bewundernd seine starken Hände am Lenkrad, während sich die Sonne in den dunklen Gläsern seiner Brille spiegelte. Auch jetzt spürte sie nur allzu sehr seine übermächtige Präsenz.
Sie fuhren durch mehrere kleine Städte, die Letzte wohl ein Wintersportort. Dann nahmen sie steile Serpentinen hinauf auf einen Hochgebirgspass, bogen ab und erreichten in dieser gottverlassenen Gegend nach einer halben Meile eine unbefestigte Straße, die sie schließlich zu einem Chalet mit Spitzdach führte, das vollständig aus Holz errichtet war.
Atemlos betrachtete Thea das Haus, das spektakulär an einem Steilhang hing. Mehrere umlaufende Balkone und ein Eingangsbereich mit bunt blühenden Geranien verliehen dem Respekt einflößenden Bau einen gemütlichen und persönlichen Eindruck. Ein Mann mittleren Alters, ein junger Mann in Arbeitsoverall – vermutlich der Hausknecht – und ein Mädchen empfingen sie freudig.
Angelos begrüßte den Älteren auf Deutsch und nickte den anderen zu. Als Thea ausstieg, überfiel sie ein Gefühl, als müssten ihre Lungen platzen. Die Luft war kristallklar, die Sonne brannte und blendete. Zum Glück für Thea sprachen die drei fließend Englisch.
Das Panorama war atemberaubend und das Haus von der Art, wie es sich nur äußerst vermögende Menschen leisten konnten. Im Inneren führte eine gewundene Holztreppe aus einer weiten Halle nach oben. Vor einem riesigen Kamin luden zwei gemütlich wirkende Sessel zum Verweilen ein, darüber ein Kronleuchter, Holz überall, gediegen-elegantes Mobiliar, wärmende Teppiche. Obgleich üppig und pompös, wirkte das Interieur warm und einladend. Thea fühlte sich sofort wohl.
Das Mädchen führte sie in die obere Etage, wo Theas Zimmer lag. Es war ein geräumiger, sonniger Raum, dessen Einrichtung den Stil des Hauses aufnahm. Während das Mädchen ihre Sachen auspackte, trat Thea auf den Balkon.
Ein unglaublicher, nie gesehener Ausblick! Thea fühlte sich wie ein Vogel, der von einem Gipfel herabschwebt. Tief atmete sie ein und ließ die glasklare Luft in ihre Lungen. Sie umfasste das Holzgeländer und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.
„Darf ich das als Zustimmung werten?“
Angelos’ sonore Stimme ertönte von der anderen Seite des Balkons. Thea fuhr herum. Er schlenderte auf sie zu.
„Der Ausblick ist fantastisch“, erklärte sie. Sie hätte es unfair gefunden, das Haus nicht zu würdigen.
„Sie leiden nicht unter Höhenangst?“, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
„Trotzdem“, warnte er. „Lehnen Sie sich nicht zu weit vor. Auch die Wege sind unberechenbar. Und folgen Sie auf keinen Fall den Ziegen! Die Tiere sind im Hochgebirge aufgewachsen.“ Ein schmales Lächeln umspielte seine Mundwinkel, und Thea merkte zum ersten Mal, dass es seine Züge freundlicher machte.
„Sie müssen hungrig sein nach der langen Fahrt. Das Essen wartet auf uns. Kommen Sie.“
Auf der Veranda
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