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Süße Teilchen: Roman (German Edition)

Süße Teilchen: Roman (German Edition)

Titel: Süße Teilchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stella Newman
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Handtasche auf die Arbeitsplatte und reiße die Kühlschranktür auf.
    Wie sonderbar.
    Im obersten Fach liegt eine frische Zitronenhälfte, daneben stehen eine Flasche Rapsöl und ein angebrochener, fettarmer Soja-Joghurt mit Kirschen und Zimt.
    Rosie ist eine stämmige Person aus Jamaika. Dass sie etwas Fettarmes aus Soja essen soll, erscheint mir nicht plausibel.
    Ich schließe die Tür, öffne sie wieder.
    Und, o Wunder, diesmal entdecke ich im Käsefach der Tür einen großen mitternachtsblauen Tiegel Gesichtscreme, zwei Fläschchen Nagellack und eine Dose Bio-Hundefutter aus Soja.
    Extrem sonderbar.
    Ich höre Rosies Schritte auf der Treppe und fahre herum. Sie bleibt stehen. »Jamie?«, fragt sie mit russischem Akzent.
    Von ihren Beinen erkenne ich nur Unterschenkel und Füße, wie bei der Mutter in den Tom-und-Jerry-Cartoons. Die Waden sehen mir nicht nach Rosie aus, das sind nicht die Waden einer achtundfünfzigjährigen Großmutter. Und weiß sind sie auch.
    Außerdem sind die Unterschenkel etwa doppelt so lang wie die von Rosie und münden in lange schmale Füße. Ein Fuß schwebt in der Luft, die Zehen gesenkt. Der Nagellack ist knallpink, den Knöchel ziert ein Brillantkettchen.
    Der Fuß landet auf der nächsten Treppenstufe. Knie, die nicht zu Rosie gehören, kommen ins Bild, schmal und knochig. Die Füße nehmen die nächste Stufe.
    Meine Knie fangen an zu zittern. Ich halte mich am Griff der Kühlschranktür fest.
    »Jamie, bist du da?«, fragt jemand mit der Stimme, die nicht Rosie gehört.
    Noch ein Schritt. Ich sehe ein Stück Oberschenkel. Schlank und wohlgeformt.
    Der nächste Schritt. Noch mehr Oberschenkel. Und dann eine Mähne, lang und kastanienbraun. Das Gesicht taucht auf, mit zwei zu großen hellblauen Augen, zwei dunklen Brauen, die entsetzt in die Höhe schießen.
    Ich wende mich dem Kühlschrank zu. In der Tür aus poliertem Edelstahl sehe ich alles verschwommen. Meine Hände zittern unglaublich, aber ich öffne die Tür, nehme die Milch wieder heraus, schließe die Tür.
    Ich glaube, mein Herz schlägt nicht mehr.
    Eine Stimme in meinem Ohr schreit, ich solle mich bewegen, aber meine Füße sind wie festgenagelt. Ich will dieser Person nicht begegnen. Sie darf nicht in die Küche kommen.
    Darum brauche ich mir keine Sorgen mehr zu machen. Sie ist nach oben gerannt, allerdings mit so leichtem Schritt, dass ich es kaum hören konnte. Oben knallt eine Tür zu.
    Als ich wieder an meinem Wagen stehe, zittern meine Hände so sehr, dass ich den Schlüssel nicht ins Schloss der Fahrertür kriege. Er scharrt und kratzt am Schloss herum, als wäre er ein Tier, das verzweifelt versucht, ins Wageninnere zu gelangen.
    Nach einer Minute gebe ich es auf. Abgesehen davon bin ich sicher, dass ich vom Haus aus beobachtet werde. Ich stürze los, biege um die nächste Ecke und winke ein Taxi heran.
    Als eins hält, springe ich hinein und keuche: »Zu Laura.«
    »Etwas genauer müsste es schon sein«, sagt der Fahrer.
    »Englefield Road.«
    Er nickt und mustert mich im Rückspiegel. Wahrscheinlich fragt er sich, ob ich mich gleich in seinem Taxi übergebe.
    Laura öffnet mir, ich lehne mich mit dem Rücken an die Wohnungstür und sinke zu Boden. Laura bückt sich und schaut mir prüfend in die Augen. Ich versuche, an irgendetwas anderes als das eben Erlebte zu denken.
    »Was ist passiert?«, will Laura wissen. »Ist er schon zurück?«
    »Könntest du bitte mein Auto abholen?«
    »Wenn du mir sagst, wo es steht.«
    »Bei ihm. Bitte. Vor halb neun.«
    »Jetzt ist es sieben –«
    »Morgen. Vor halb neun.«
    »Okay, aber jetzt bleibe ich erst mal hier bei dir. Danach hole ich deinen Wagen.«
    »Halb neun. Das Auto. Keinen Strafzettel.«
    »Ich verspreche dir, es rechtzeitig abzuholen.«
    »Das Auto. Keine Reifenkralle.«
    Als mein Großvater vor vielen Jahren einen Schlaganfall hatte, besuchten mein Bruder und ich ihn im Krankenhaus. Er erkannte uns, aber als er anfing zu sprechen, waren es Sätze wie, »Sagt der Schwester eins zwei, eins zwei.« Oder: »Eure Großmutter, eins zwei, eins zwei, in den Unterlagen, eins zwei, eins zwei.« Unterdessen zählte er die beiden Zahlen an den Fingern ab. Mein Bruder kicherte nervös. Als wir die Station verließen, brach ich in Tränen aus und konnte nicht fassen, dass das Gehirn meines Großvaters nur noch falsche Signale funkte. Daran muss ich jetzt auf Lauras Fußboden denken, während es durch die Türritze unten am Rücken zieht.
    »Halb neun«, wiederhole ich.

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