Sueße Versuchung
wenn du schon nicht auf mich hörst.«
»Nein. Warte. Geh noch nicht hin. Ich möchte sie zuerst nur beobachten.« Sophie war sich nicht so sicher, ob es eine gute Idee war, mit Melinda zu sprechen. Immerhin hatte sie ihr ja nur als Vorwand gedient, um hinter Edward her zu spionieren.
Henry brummte etwas, sah sich um, und Sophie beobachtete in der Zwischenzeit ihre Schwägerin. Sie war tatsächlich etwas größer als die anderen Frauen. Sophie betrachtete sie neugierig. Sie trug eine Halbmaske, die ihre obere Gesichtshälfte verdeckte, und darüber noch einen Schleier, der auch von ihrer Mund- und Kinnpartie nur die Konturen erkennen ließ.
Ein Diener kam abermals mit einem Tablett vorbei und hielt es Sophie auffordernd hin. Sie nahm ein Glas und trank davon, ohne Melinda aus den Augen zu lassen.
Ein Mann sprach sie an. Lady Melinda nickte ihm zu, lächelte, schenkte ihm jedoch kein Gehör. Er lief ihr nach. Sie wandte sich um, schüttelte den Kopf, hob sogar abwehrend die Hand und kam dann geradewegs auf Sophie zu. Sie hatte einen sehr eleganten Gang, bewegte sich anmutig, sehr graziös. Sophie betrachtete sie ebenso erstaunt wie auch neugierig, als sie vor ihr stand. Sie war hübsch, das Gesicht unter dem Schleier war ungepudert, mit einem Schönheitsfleck über dem Mundwinkel, die Augen waren zwar etwas weniger intensiv als jene von Edward, aber in fast der gleichen violetten Farbe. Sie trug die weiß gepuderte Perücke, wie man sie am französischen Königshof bevorzugt hatte. Im Gegensatz zu den anderen Frauen war sie nicht halbnackt, sondern ihr Dekolleté war relativ hochgeschlossen und ihr Unterrock dicht, sodass man die Beine nicht sehen konnte. Und darüber trug sie noch ein dunkelblaues Cape. Sie wirkte wie eine Dame.
Lady Melinda wandte sich Henry zu. »Sie dürfen sich zurückziehen, Sir. Wir bedürfen Ihrer Dienste nicht«. Sie hatte eine angenehme, melodische Stimme.
»Äh … ich …«, stotterte Henry.
»Geh nur, Henry«, sagte Sophie tapfer. Es war ihr ein Rätsel, weshalb Melinda von allen Gästen im Saal ausgerechnet auf sie zugesteuert war, aber nun, da sie schon einmal hier war, wollte sie auch mit ihr sprechen. Henry stolperte davon, warf immer wieder besorgte Blicke über die Schulter und blieb dann auf der anderen Seite des Saals stehen, um unverwandt herüberzustarren.
»Das ist mein Vetter«, erklärte Sophie.
»Wie reizend. Aber dennoch ist es mir lieber, Sie unter vier Augen zu sprechen, mein lieber Junge. Ich bin nämlich entzückt, Sie wieder zu treffen. Man hat mir gesagt, dass wir uns vor einiger Zeit unter sehr irritierenden Umständen auf den Klippen kennengelernt haben und …«
Sophie riss die Augen auf, als ihr der Sinn dieser Worte bewusst wurde. Die Nackte von den Klippen? »Das waren
Sie
?«, stieß sie ungläubig hervor.
»Ja, leider.« Melinda hob kurz Schleier und Maske. Und tatsächlich, Sophie erkannte sie wieder. Und obwohl der Champagner schon erste Auswirkungen zeigte, war sie noch nüchtern genug, um mit einem Schlag zu begreifen, was damals vor sich gegangen war. Melinda war Captain Hendricks Geliebte, hatte Henry behauptet. Aber Edward war ihr nachgeritten. Hatte es einen Streit gegeben? Hatte er sie retten wollen?
Jetzt erst wurden ihr alle seine Bemerkungen klar! Und dann war sie mit Jonathan davongeritten! Sophie presste die Lippen zusammen. Edward hätte ihr irgendwann erzählen müssen, wer die Frau war. Spätestens am Hochzeitstag! Aber es gefiel ihm ja, sie ständig im Dunkeln tappen zu lassen wie ein dummes Kind.
»Und ich bitte Sie inständig, darüber zu schweigen.« Lady Melinda kam so nahe, dass Sophie unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Ihre Hände lagen plötzlich auf Sophies Schultern, sie drängte sie tiefer in die Schatten der Palmen. Melinda war tatsächlich so groß, dass Sophie ein wenig hochsehen musste.
»Aber wie haben Sie mich denn erkannt?«, fragte Sophie verwirrt. »Sie schienen zu wissen, dass ich hier bin.«
»Captain Hendricks hat Sie gesehen. Deshalb wollte ich Ihre Bekanntschaft machen.«
»Captain Hendricks? Aber wie konnte er mich denn erkennen? Das Zusammentreffen auf den Klippen war doch viel zu kurz dazu!«
»Sie haben damals einen sehr bleibenden Eindruck hinterlassen.« Melinda lächelte.
»Oh …« Sophie sah sich misstrauisch um. Sie wurde also beobachtet. Und ein Wildfremder hatte sie erkannt. Das war nicht gut.
»Er weiß immer, was in seinem Haus vor sich geht.« Melinda hielt einen der Diener auf,
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