Sueßer Tod
Scotch heraus. »Ich hoffe«, sagte sie, »er ist Ihnen auch pur recht. Zu einer ordentlichen Bar mit Eis habe ich es noch nicht gebracht, obwohl ich die Hoffnung nicht aufgebe. Im Augenblick reicht es nicht zu mehr, weil meine ›Kunstfehler‹-
Versicherung so viel schluckt. Sechsunddreißigtausend im Jahr, können Sie sich das vorstellen?«
»Ich stelle fest, ich kann es nicht.«
»Ich habe die beeindruckende Summe nur ins Spiel gebracht, um nicht über Veronica sprechen zu müssen. Aber als gewiefte Detektivin haben Sie das zweifellos längst gemerkt. Prost!«
»Kennen Sie Veronica gut?«
»Nicht sehr gut. Und es mag Sie wundern, aber was ich von ihr wußte, gefiel mir, zumindest am Anfang. Ehe sie den Prozeß gegen meine Mutter führte, meine ich.«
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»Archer hat mir von der ganzen Geschichte erst erzählt, als ich vom Clare College zurückkam.«
»Ich weiß. Wir hatten beschlossen, die Sache aus der Biographie herauszuhalten, denn im Grunde hatte das Ganze nichts mit meiner Mutter zu tun.
Es war Veronicas Problem. Außerdem war es auch nichts so Außergewöhnliches.
Daphne Du Maurier ist mehr als einmal verklagt worden.«
»Auch das hat Archer mir erzählt.«
»Aber dann startete Veronica ihre Kampagne, posaunte überall herum, meine Mutter sei umgebracht worden – niemals hätte sie Selbstmord begangen und ganz gewiß nicht, ohne mit ihr, Veronica, darüber zu sprechen und einen solchen Abschiedsbrief hätte sie schon gar nicht hinterlassen. Dem letzten Punkt muß ich angesichts des neu aufgetauchten Tagebuchteils zustimmen. Meine Mutter wußte über Charlotte Perkins Gilman und ihre Krankheit Bescheid. Aber meine Mutter hatte keinen Krebs, warum also ein solcher Brief?«
»Vielleicht weil Sie glauben sollten, daß Ihre Mutter sich wegen Krebs umgebracht hätte, während es in Wirklichkeit einen ganz anderen Grund gab.«
»Daran habe ich noch nicht gedacht. Ein irritierender Gedanke, aber bei weitem nicht so irritierend wie die Vorstellung, sie wäre ermordet worden, was ich mich einfach zu glauben weigere. Wer hätte meine Mutter umbringen sollen?«
»Offen gesagt, ich weiß von mindestens sechs Leuten, die sie mit Freuden ermordet hätten, wenn sie es unauffällig und ohne erwischt zu werden hätten tun können. Veronica habe ich noch nicht einmal mitgezählt.«
»Das ist doch nicht Ihr Ernst?«
Kate lächelte. »Eins habe ich in meinem langen, harten, zum Teil der Untersuchung von Verbrechen gewidmeten Leben gelernt: die meisten Menschen wälzen Mordgedanken. Wenn man Freud glauben darf, beruht unsere ganze Zivilisation auf der Sublimation dieses angeborenen Triebs. Aber immer mal wieder geschieht es, daß jemand seine Mordgedanken ausführt, und gar nicht so selten wird er dessen auch überführt. Oder sie. Außerdem müssen wir eines bedenken: Wenn jemand so geliebt wurde wie Ihre Mutter, und dazu von so unterschiedlichen Menschen wie Bertie vom Clare College, Veronica und Archer und – postum natürlich – von Herbert – wenn jemand so geliebt wurde, ist es auch wahrscheinlich, daß er gehaßt wurde.«
»Ja«, sagte Sarah. »Ich verstehe. Aber ich vertraue immer noch darauf, daß sich das Ganze als alberner Irrtum herausstellen wird. Trotzdem muß ich wohl den Tatsachen ins Auge sehen: Entweder hat sich meine Mutter ohne triftigen, jedenfalls nicht erkennbaren Grund umgebracht, oder sie wurde ermordet. Welch schreckliche Alternative.«
»Und vergessen wir eines nicht«, fügte Kate hinzu. »Wenn jemand sie getötet hat, muß er eine wundervolle Sache entdeckt haben: eine Droge, die keine Spuren im Körper hinterläßt oder die die Pathologen noch nicht nachweisen können. So 73
etwas ist noch nicht einmal in den wildesten Kriminalromanen erlaubt.«
»Ich glaube auch nicht, daß es im wirklichen Leben passiert«, sagte Sarah.
»Hätten Sie Lust, mit mir zu kommen und meine Tochter und meinen Mann kennenzulernen?«
»Es wäre mir eine Ehre«, sagte Kate und meinte es auch so.
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Neun
Ich habe mehr erfahren, als ich hier geschrieben habe, mehr als ich schreiben will, mehr als ich schreiben kann. Viel von unserem Leben müssen wir in Schweigen hüllen, weil es zu heikel für die Sprache ist, weil wir es anderen nicht erklären können und weil wir es außerdem selbst noch nicht verstehen.
Ralph Waldo Emerson
Als Kate an jenem Abend nach Hause kam, zog sie sich mit dem gerade gefundenen Teil von Patrices Tagebuch zurück. Nach dem Abend mit Patrices Tochter und deren
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