Sueßer Tod
fanden, war der letzte, aktuellste Abschnitt ihres Tagebuchs. Sie hatte ihn hinten in einen Ordner mit Geschäftskorrespondenz -Rechnungen, Steuerbelegen und dergleichen – gesteckt. Bestimmt hat sie ihn mit Absicht dort aufbewahrt, um ihn vor neugierigen Blicken zu schützen, aber ich frage Sie, wer hätte schon…«
»Ein weiteres Merkmal der Generation Ihrer Mutter.«
»Ich weiß«, lächelte Sarah. »Sie haben bestimmt den Eindruck, daß ich sehr schnöde von einer solch beeindruckenden Mutter spreche. Trotzdem dürfen Sie mir glauben, daß ich sie liebte und bewunderte. Aber mir gegenüber ließ sie sich leichter fallen als anderswo, das ist jedenfalls der Ausdruck, den sie selbst oft benutzte. Ich kannte ihre Ängste und Selbstzweifel, über die sie nur mit wenigen Menschen sprach. Ich kannte sie als sehr verletzlich und voll von den Konflikten ihrer Generation: beschämende Dinge verbirgt man vor anderen – zum Beispiel, daß einem die Haare von der Chemotherapie ausgefallen sind. Eine Frau meines Alters würde sagen: ›Mir sind nach der Chemotherapie die Haare ausgegangen. Ich trage eine Perücke.‹ Aber obwohl meine Mutter im üblichen Sinn des Wortes nicht eitel war, konnte sie die Vorstellung nicht ertragen, andere wüßten, daß sie eine Perücke trug oder Krebs hatte.«
»Aber George und Ihnen hat sie es gesagt?«
»Ja, natürlich. Aufrichtigkeit ging ihr über alles. Eine solche Sache vor uns zu verbergen hätte sie als das Höchstmaß an Unaufrichtigkeit empfunden. Ganz zu schweigen davon, daß ich als ihre Tochter zu meiner eigenen Sicherheit wissen mußte, daß meine Mutter Brustkrebs hatte. Außerdem wollte sie meine Hilfe: Wozu hatte sie schließlich eine Ärztin in der Familie?«
»Fiel denn niemandem auf, daß sie ihre Haare verloren hatte?« fragte Kate.
»Nein, das war das Wunderbare dabei. Sie hatte glattes, graues Haar, das sie zu einem Mittelscheitel kämmte und rundherum kurz schnitt. Als sie dann eine graue Kurzhaarperücke trug, fiel der Unterschied niemandem auf, außer ein paar Leuten, die meinten, endlich einmal habe sie einen ordentlichen Haarschnitt. Hilfreich war natürlich auch, daß sie den Knoten im Sommer entdeckte, sich also alles während der Ferienzeit abspielte. Ich habe oft das Gefühl gehabt, das Schicksal konspiriere mit meiner Mutter, damit sie ihre Geheimnisse hüten konnte. Deshalb«, fügte Sarah seufzend hinzu, »ist es natürlich jetzt um so schrecklicher, daß alle möglichen Vermutungen auftauchen, und die Leute tuscheln. Klinge ich nicht genau wie meine Mutter? Ich ertappe mich oft dabei, daß ich so rede wie sie, 71
manchmal sogar aussehe wie sie.«
Kate lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Ich nehme an, Sie werden mir erlauben, den neuen Tagebuchteil zu lesen«, sagte sie. »Wenn ich recht verstehe, geht aus ihm eindeutig hervor, daß Ihre Mutter bis zu ihrem Tod wußte, daß sie keinen Krebs hatte. Womit der Grund für einen Selbstmord, den Sie zunächst so bereitwillig annahmen, also hinfällig geworden ist.«
»Sie reden wie ein Jurist, nur verständlicher.«
»Vielen Dank. Ich bin mit einem Juristen verheiratet – er spricht auch verständlicher als seine Kollegen.«
»Tut mir leid. Ich fürchte, das hat beleidigend geklungen.«
»Kein bißchen. Jedenfalls habe ich jetzt weniger Schuldgefühle wegen meines Widerwillens, Sie aufzusuchen. Ich habe eine Abneigung gegen Arzte, die an Voreingenommenheit grenzt, Teufel – ich bin voreingenommen. Sie sind eine angenehme Überraschung.«
»Gleichfalls, wenn ich das sagen darf. Ich hatte mir vorgestellt, Sie wären jung und dynamisch.«
»Das«, sagte Kate, »ist das Netteste, was Sie mir hätten sagen können. Ich komme in die Jahre und bin schüchtern. Mir gefällt Ihr Bild von mir, und ich werde mir Mühe geben, es zu kultivieren.«
»Sie wissen ganz genau, was ich meine. Hätten Sie gern einen Sherry?«
»Trinken eigentlich alle Leute, die Ihre Mutter kannten, Sherry? Ich dachte gerade an Veronica«, fügte Kate hinzu, als sie Sarahs verwirrten Blick sah. »Auch sie hat mir Sherry angeboten. Sollte Ihre Mutter wirklich Sherry gemocht haben, so wäre das der erste unsympathische Zug, den ich an ihr entdecke.«
»Ich habe noch Scotch da. Der mir auch lieber ist. Bei Sherry hat man das Gefühl, als handele es sich nicht um Alkohol, sondern lediglich um eine Zeremonie. Na, wenn da nicht schon wieder meine Mutter spricht!«
Sarah öffnete einen Schrank und holte zwei Gläser und eine Flasche
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