Sueßer Tod
Ich verlasse das Krankenhaus und denke mit überschwenglicher Freude: sechs Monate kann ich wirklich leben – bis zur nächsten Untersuchung! Aber ich weiß genau, daß ich mich weit mehr vor den Ärzten, dem Hospital, der Krankheit und allem, was damit zusammenhängt, fürchte als vor dem Tod. Nie kann ich ein Krankenhaus betreten, ohne mich über die vielen Leute dort zu wundern, die sich das Leben um jeden Preis erkaufen. Ich werde nie aufhören, mich zu fragen, warum das Leben an sich einen solchen Wert haben soll und der Tod solche Schrecken.
Wie mir zu diesem Thema ständig etwas aus den Büchern entgegenspringt, die ich gerade lese. Eben fand ich bei Virginia Woolf: ›Aber ich wollte – wie leidenschaftlich, wie hartnäckig, dringlich, besessen, das kann ich nicht sagen –
dieses Buch schreiben. Und jetzt fühle ich mich stark und ruhig und gefaßt: so als hätte ich mir selbst meinen stehenden Spruch gesagt: tu es oder laß es. Das habe ich hinter mir: frei für neue Abenteuer – mit sechsundfünfzig!‹ Dann las ich gerade Isak Dinesens Motto, das der Ansprache des Pompeius an seine Mannschaft entstammt: ›Navigare necesse est vivere non necesse‹. Es ist notwendig zu segeln, zu leben ist nicht notwendig. Dinesen hat wirklich verstanden, was damit gemeint war. Mein Gott, können nur Frauen das verstehen? Zu Wagnissen bereit sein – frei sein zu segeln. Sich nicht um das Leben zu sorgen, sondern sich zu sorgen, wenn das Leben ohne Abenteuer ist.
Die Leute wundern sich über mein Reden vom Tod, das entgeht mir nicht. Es ist so schwer, ihnen verständlich zu machen, daß, wer an die Zukunft denkt, auch an den Tod denken muß. Daß die Menschen den Tod so sehr fürchten, ist vielleicht der Grund, warum sie so gern in die Vergangenheit zurückkehren. Oder ist es andersherum: Kann ich so leicht vom Tod sprechen, weil ich ohne Nostalgie bin?
Ich verspüre nicht nur keinerlei Wunsch, in die Vergangenheit zurückzukehren oder sie Wiederaufleben zu lassen; ich habe sie einfach vergessen. Würden die Psychologen sagen, ich habe sie verdrängt? Aber ich glaube, man kehrt nur dann zwanghaft in die Vergangenheit zurück, wenn man sie nicht bewältigt hat, wenn sie einen immer noch beherrscht. George Eliot schrieb an ihre Freundin Barbara Bodichon: ›Im Augenblick ist es die fernste Vergangenheit, die meinen Geist zu größter Freiheit, dem klarsten poetischen Gefühl inspiriert, und es werden noch viele Schichten zu durchkämmen sein, ehe ich es wagen werde, irgendwelches Material, das womöglich aus der Gegenwart stammt, künstlerisch zu verarbeiten‹.
Als sie eine anerkannte Künstlerin war, hörte auch George Eliot auf, in der Vergangenheit zu leben und zu schreiben. Zum Schluß war, glaube ich, auch sie ganz damit beschäftigt, aus der Gegenwart, aus Ängsten vor der Zukunft ihre Geschichten zu erschaffen. Aber zweifellos war es gegen Ende ihres Lebens, als 78
sie die Sonett-Sequenz ›Bruder und Schwester‹ schrieb, in der sie sich danach sehnt, wieder eine kleine Schwester zu sein. Sogar diese Frau also, die eine Figur wie Maggie in ›Die Mühle am Floss‹ geschaffen hatte, konnte sich so etwas wünschen! Was will ich jetzt? Nichts anderes als mit Bravour achtundfünfzig sein und schreiben, wenn es mir vergönnt ist.
Natürlich frage ich mich auch, was aus dem Clare wird. Wird es überleben?
Woher wird der Mut kommen, den wir alle brauchen? So viele Frauen haben Angst. Aber wer wollte ihnen das vorwerfen? Und die Männer haben Angst, den Glorienschein ihrer Männlichkeit zu verlieren. Es bereitet mir ein ganz besonderes Vergnügen, diese schreckliche Altphilologen-Pedantin nicht zu mögen: als ob das, was die Griechen geschrieben haben, in Gefahr wäre, durch moderne Interpretationen verraten zu werden. Die griechische ist die beständigste aller Literaturen: wovor meinen die sie beschützen zu müssen? Sich selbst wollen sie beschützen. Die alten Griechen oder die eigenen Erinnerungen – indem man sie behütet, verschließt man sich vor der Zukunft.«
Kate legte das Tagebuch nieder. Sie hatte plötzlich das Gefühl, mit Patrice gesprochen zu haben. Seit ihrem Besuch am Clare hatte Kate viele Gemeinsamkeiten mit ihr entdeckt. Gemeinsam ist uns vor allem, dachte sie, daß wir so selten zurückgeblickt haben. Und ich hatte immer geglaubt, ich sei die einzige ohne Nostalgie, die einzige, die nicht von Geschichten aus ihrer Kindheit besessen ist. Eigenartig, sinnierte Kate, vielleicht hat sie
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