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Sueßer Tod

Sueßer Tod

Titel: Sueßer Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Cross
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ich es wissen, und ich wäre erleichtert und dankbar, wenn Sie es herausfinden könnten. Ich bin froh, daß ich Sie mag. Ihre Arbeit unterscheidet sich im Grunde nicht sehr von meiner: wir beide sammeln so viele Fakten wie möglich und versuchen dann die passende Erklärung zu finden.
    Manchmal liegen wir richtig und manchmal falsch. Manchmal können wir mit unseren Befunden etwas anfangen und manchmal nicht.«
    Kate nickte. Sie hatte, die Hände in den Manteltaschen vergraben, dagestanden und gewartet, bis Sarah zu Ende gesprochen hatte. Wir werden noch öfter miteinander reden, dachte Kate, aber kein Gespräch wird mehr diese Intensität haben. Patrice hätte gesagt: Jetzt sprecht ihr wirklich miteinander.
    »Ich kann es einfach nicht ertragen«, fuhr Sarah in dem Moment fort, als Kate, nachdem lange Schweigeminuten verstrichen waren, gerade die Hände aus den Taschen nahm, »daß sie nicht die Chance hat, ihre Version der Geschichte zu erzählen. Jemand hat sie zum Schweigen gebracht, oder dazu, von selbst zu 76

    verstummen. Ich muß wissen, warum. Oh, nicht nur um ihretwillen – vor allem um meinetwillen. Ich möchte frei sein, sie so zu lieben, wie man Tote lieben sollte, ohne Zwang, ihnen ständig etwas erklären zu wollen, was man nicht erklären kann.
    Am Anfang«, fuhr sie fort, »hatte ich gehofft, unser Baby wäre ein Junge, weil ich wollte, mein Kind könnte zu mir eine Beziehung haben wie George zu meiner Mutter: liebevoll, unkompliziert, offen. Aber dann dachte ich: Nein, Frauen haben sich Tausende Gründe einfallen lassen, sich einen Sohn zu wünschen, und ich werde keinen neuen dazuerfinden. Mit der Zeit wünschte ich mir dann so sehr eine Tochter, daß ich mich betrogen gefühlt hätte, wenn es ein Junge geworden wäre.
    Und sollte ich je eine so gute Mutter sein wie Patrice, dann wird meine Tochter mir gegenüber ähnliche Gefühle haben wie ich meiner Mutter gegenüber.«
    »Ihre Tochter wird Sie lieben«, sagte Kate. »Und wenn sie Sie so liebt wie Sie Patrice lieben, nun, dann dürfen Sie sich glücklich schätzen. Und wenn ich auf irgendeine wundersame Erklärung für Patrices Tod stoße, werden Sie die erste sein, die davon erfährt. Nach Archer und Herbert natürlich.«
    »Natürlich«, hatte Sarah gelacht.
    Kate nahm das Tagebuch in die Hand. Wenn ich mir vorstelle, daß wir uns einbildeten, Patrice zu kennen! Wir wußten alles, was es zu wissen gab – Archer, Herbert und ich. Und jetzt dies hier. Aber nie weiß man alles, man macht nur Geschichten aus dem wenigen, was man weiß und hält die erfundenen Figuren für sehr überzeugend, aber dann stellt man fest, daß sie einen zum Narren halten. Und wenn wir uns Biographen nennen, dann nennen wir die Geschichten und Figuren, die wir erfunden haben, Biographie.
    »Ich habe gerade eine Geschichte gehört«, hatte Patrice geschrieben, »die zweifellos außergewöhnlich, aber doch glaubwürdig ist. Bertie erzählte sie mir.
    Diese Freunde von ihm mit den vielen Kindern saßen tagelang in ihrem Landhaus fest, weil es regnete. Irgendwann hatten die Kinder plötzlich etwas gefunden, das sie völlig zu beschäftigen schien. Der Mann schlief und die Frau las. Später kamen sie dahinter, was die Kinder so gefreut und so lange ruhig gestellt hatte. Sie hatten Stunden in der Vorratskammer verbracht und von jeder einzelnen Konserve das Etikett entfernt. Auf den Regalen prangten jetzt Reihen silbrig funkelnder Büchsen, manche groß, manche klein. Kein Hinweis darauf, was sie enthielten. Das Kochen wurde plötzlich zu einer ganz neuen Angelegenheit, voller Überraschungen. Und ich dachte: Genauso ergeht es mir neuerdings mit Menschen. Die Verpackungen sind verschwunden. Ich muß mich auf das einlassen, was innen ist, muß ohne das Etikett auskommen. Ich bin jetzt eine Frau in den mittleren Jahren, oder genauer: eine ältere Frau, so wie auch Strether und George Eliots Mrs. Transome und Forsters Henry Wilcox und andere literarische Charaktere, die um fünfundfünfzig sind, als ›älter‹ gelten. Wäre ich doch nur Künstlerin genug, dieses unglaubliche Gefühl, daß alles möglich ist, daß alle Wunder geschehen können, zu vermitteln.
    James vermittelte es natürlich durch Strether, aber andererseits war der springende 77

    Punkt bei Strether, daß er nie gelebt hat.
    Aber ich, wie es scheint, werde leben, jedenfalls noch eine Weile. Der Krebs ist nicht wieder aufgetreten und hat sich auch sonst keinen seiner beängstigenden Schliche einfallen lassen.

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