Sueßer Tod
Gelegenheit niest. Archer, es gibt ihn doch wirklich, diesen Dr.
Myers, oder nicht?«
»Wenn nicht«, bemerkte Archer offensichtlich höchst zufrieden, »haben wir jedenfalls eine wundervolle, geradezu literarische Gestalt kreiert.«
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Aber es gab ihn – in einem Flachbau in der Nähe seiner Wohnung, der seine eigene Zufahrt hatte, die auf einen eigenen Parkplatz mündete. Er hatte auf sie gewartet und stand in der Tür, als sie aus dem Auto stiegen.
Etwas, das das ganze folgende Gespräch erleichtern sollte, wurde Kate auf den ersten Blick klar: sie verstand, warum Patrice ihn gemocht hatte, warum sie in ihm die Sorte Arzt gesehen hatte, die man mit der Lupe suchen mußte. Ihm ging jegliches professionelle Gehabe ab, und Kate spürte sofort, daß er sehr warmherzig sein konnte, wenn er jemand mochte und äußerst kühl, wenn ihm jemand nicht gefiel. Und die Leute, die ihm gefielen, wagte Kate zu vermuten, mußten hohe Intelligenz und persönliche Originalität in sich vereinen. Schablonen und Rollenklischees dagegen schien er zu verachten. Unvorstellbar, daß jemand es gewagt haben sollte, seinen Platz am Schreibtisch einzunehmen.
Dr. Myers führte sie in sein Büro. Im Gegensatz zu Rektorin Norton, wie Kate sofort auffiel, setzte er sich an seinen Schreibtisch und wies sie und Archer auf zwei Stühle davor. Als ob wir Patienten wären, dachte Kate. Er will uns wohl in die richtige Atmosphäre versetzen.
»Ich habe mir das Hirn zermartert«, sagte er, »buchstäblich zermartert. Zuerst sah ich nur drei Möglichkeiten: Entweder hatte Patrice gelogen oder das Ganze phantasiert. Oder: ich litt an Halluzinationen und bildete mir nur ein, Patrice habe mir erzählt, jemand hätte in meiner Praxis den Arzt gespielt, ohne die kleinste Spur zu hinterlassen. Zwar glaubte ich sowohl an Patrices gesunden Verstand als auch an meinen eigenen, aber ich sah keine andere Wahl. Für eine der Möglichkeiten mußte ich mich entscheiden. Dieser Gedanke war mir so unerträglich, daß ich mich daran machte, den falschen Arzt aufzuspüren. Das heißt, ich suchte nach einem Beweis für seine Existenz. Und, meine Freunde, ich habe ihn gefunden.«
Kate wurde klar, daß diese Nachricht von Archer und ihr gleichermaßen mit dem Gesichtsausdruck aufgenommen wurde, der ansonsten nur Leuten eigen ist, die gerade in der Lotterie gewonnen haben. Gut, dachte Kate, ich will ihm glauben.
Ich will ihm vertrauen. Und ich will auch glauben, daß er Patrice vertraut hat.
Wirklich eigenartig, wie wichtig für uns alle unser Glaube an sie ist. Mehr als alles andere scheinen wir die Entdeckung zu fürchten, daß sie unser Vertrauen enttäuscht haben könnte.
»Es wird Sie bestimmt amüsieren«, sagte Myers, »aber ich begann wie Freeman Wills Crofts. Fingerabdrücke, Reifenspuren, Aschereste von irgendwelchen esoterischen Zigaretten, Leute, die ihn vielleicht gesehen haben.
Womöglich hat er sogar Fingerabdrücke hinterlassen, aber bei dem Publikumsverkehr hier, wie sollte man da Fingerabdrücke identifizieren? Nur, daß es nicht meine sind, könnte man feststellen. Das gleiche gilt für Reifenspuren. Und was die Frage betrifft, ob irgend jemand beobachtet wurde – nun, der alten Dame aus den englischen Romanen der gehobeneren Art, die an ihrem Fenster sitzt und der nichts entgeht, fehlte in meiner Straße der Fensterplatz, womit ich natürlich 107
nicht anzweifeln will, daß sie ihn in vielen englischen Straßen hat. Tagsüber ist die Gegend hier so verlassen, daß Einbrecher schon im Lastwagen vorgefahren sind und unbemerkt und ungestört ganze Häuser leergeräumt haben. Also konzentrierte ich meine Aufmerksamkeit auf die Praxis. Unglücklicherweise hatte die tüchtige Frau, die meine Praxis in Ordnung hält, während meiner Abwesenheit einen Großputz veranstaltet, und ich glaube, daß unser ›Schauspieler‹ hier war, ehe sie damit begann. Das Dumme ist, daß ich nicht weiß, wann Patrice mit ihm gesprochen hat. Daß sie ihn überhaupt gesehen hat, brachte mich damals so durcheinander, daß mir die Frage, wann das war, nicht besonders wichtig erschien.
Aber dann hatte ich zum ersten Mal Glück. Ich fragte Marjorie, wann sie die Praxis geputzt habe, und sie antwortete, kurz vor meiner Rückkehr. Sie habe großes Glück gehabt, daß ich nicht mitten in ihren Großputz hineingeplatzt sei. Sie hatte erst so spät damit begonnen, weil sich ihr Vater die Hüfte gebrochen hatte und sie eine Weile bei ihm geblieben war. Das ließ natürlich
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