Sueßer Tod
Archer zu kichern begann. »Ich gebe ja zu, es ist zu komisch, aber ich werde den Witz der Situation weit mehr genießen, wenn wir sicher in New York sind, und Reed und Herbert alles erzählen. O Gott, jetzt komme ich wirklich zu spät zu Veronica.«
Nachdem sie den ganzen Weg gerannt war, kam Kate schließlich doch noch pünktlich an. Veronica begrüßte sie so ruhig und heiter, daß Kate zugleich verwirrt und dankbar war. War ihre Trauer verflogen, oder hatte Kates Anwesenheit auf dem Campus ihr die Sorgen genommen? Wie sich bald herausstellen sollte, traf letzteres zu. Veronica hatte Vertrauen zu Kate und war davon überzeugt, daß sie schon herausfinden würde, was oder wer für Patrices Tod verantwortlich war.
Veronica und Sarah, dachte Kate – hoffentlich enttäusche ich euch nicht.
Sie setzten sich sofort zum Essen. Den Aperitif hatte Kate mit der Bemerkung abgelehnt, daß sie dem Hungertod nahe sei. Sie war fest entschlossen, gleich zur 101
Sache zu kommen. »Verzeihen Sie mir«, sagte sie, »wenn ich ein wenig erbarmungslos bin mit meinen Fragen, aber wenn Sie davon überzeugt sind, daß Patrice den Abschiedsbrief nicht selbst geschrieben, sich also nicht das Leben genommen hat, auch nicht in einer Phase plötzlicher Verzweiflung, wer hat sie dann Ihrer Meinung nach getötet und warum?«
»Von welcher Phase plötzlicher Verzweiflung sprechen Sie?« fragte Veronica.
»Nun, mal angenommen, sie hatte gerade erfahren, daß sie an einer tödlichen und qualvollen Krankheit litt. Oder mal angenommen, sie wußte, sie würde erblinden. Oder vielleicht war sie zu dem Schluß gekommen, das Buch, an dem sie gerade arbeitete, sei wertlos. Weitere Katastrophen dürfen Sie selbst erfinden. Ich möchte nur eines wissen: Glauben Sie wirklich, daß Patrice unter keinen Umständen den Tod gesucht hätte? So wie Virginia Woolf zum Beispiel?«
»Doch, unter manchen vielleicht. Aber denken Sie an Woolfs Abschiedsbriefe, an ihren Mann und ihre Schwester.«
»Patrice hinterließ ihren Kindern eine Notiz. Verzeihen Sie, damit will ich natürlich nicht sagen, daß Sie ihr nichts bedeuteten, aber wie Virginia Woolf hinterlassen die meisten Menschen eben Briefe an ihre Familie.«
»Das will ich ja nicht bestreiten«, sagte Veronica. »Aber mir kam einfach etwas faul an der Sache vor. Die Frage ist nur, was man unternehmen kann. Was Sie unternehmen können.«
»Sie könnten einfach drauflos spekulieren, wer als Täter in Frage kommt und dann sehen wir, was wir damit anfangen. Schließlich haben Sie ja als erste von Mord gesprochen.«
»Na gut. Wenn Sie meine Meinung hören wollen – und ich überlasse Ihnen die Entscheidung, was sie wert ist: Ich glaube, es war eine Frau. Für mich gibt es da keinen Zweifel.«
»Warum? Einfach Ihrem Gefühl nach? So wie die Detektive in den Kriminalromanen der Fünfziger verkündeten, Giftmord ist Frauensache?«
»Ich habe keine Klischeevorstellungen von Verbrechen, aber ja, einfach meinem Gefühl nach. Ein Mann hätte sie mit Körperkraft überwältigen können, eine Frau nicht. Patrice war in den Fünfzigern, aber gut in Form und sehr kräftig.
Außerdem neigte sie dazu, Frauen zu vertrauen, selbst den ekelhaftesten. Und natürlich brachte sie sich in Gefahr mit ihrem Gerede über den Tod. Und denken Sie daran, das Ganze geschah im Juni, zur Zeit der Ehemaligentreffen, wo es auf dem Campus vor Frauen nur so wimmelte. Sogar die Rektorin schließe ich als Verdächtige nicht aus, denn ich bin mir sicher, daß Patrice ihr ein Stachel im Fleische war. Ich weiß, ich weiß – wie hätte sie es bewerkstelligen sollen? Aber aus noch einem anderen Grund glaube ich, es war eine Frau. Männer sind sich ihrer Macht immer noch sehr sicher, jedenfalls an Orten wie diesem. Das System bietet ihnen genug Möglichkeiten, unangenehme Frauen loszuwerden, sie brauchen sie nicht umzubringen. Mag sein, daß sie im Zorn jemand töten, aber sie würden 102
keinen Mord planen. Viel einfacher, auf den vielfältigen Wegen, die unsere Institutionen bieten, Intrigen zu spinnen, um jemanden aus dem Weg zu räumen.«
»Veronica«, wechselte Kate das Thema, »können Sie mir auch nur einen Grund nennen, warum es heute noch reine Frauencolleges geben sollte? Ich meine, wir alle wissen, wie wichtig sie in der Vergangenheit waren. Aber gibt es irgendeinen Beweis, daß diese auch heute noch besser für Frauen sind?«
»Nun, schon allein der Wissenschaft wegen: viel mehr Absolventinnen dieser Colleges gehen in die
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