Summer Westin: Todesruf (German Edition)
fragte, was wohl eher zu der jungen Frau passte: Tannenzapfen, Stofftiere oder Rosen? Das Bild war nicht sonderlich gut, aber man sah, dass sie groß und blond war und eine Schaufel in der Hand hielt. Sie trug einen Schutzhelm, und ihr Gesicht hatte große Ähnlichkeit mit Allies. Angeblich hatte ja jeder Mensch irgendwo einen Doppelgänger, und dieses Mädchen hätte ohne weiteres Allies Doppelgängerin sein können. Ernest kniff die Augen zusammen und schob das Gesicht so nah wie möglich an das Bild heran.
Und dann traf es ihn wie der Blitz. Plötzlicher und schmerzhafter als das Skalpell, das in Vietnam in sein Bein eingedrungen war. Von irgendwoher ertönte ein Stöhnen, zunächst leise und wie aus der Ferne, dann immer lauter und näher. Als ihm bewusst wurde, dass er selbst es war, der dieses schreckliche Geräusch von sich gab, schlug er sich rasch die Hand vor den Mund und stolperte von dem Foto weg.
Wie konnte Lisa Glass Allie sein? Oh Gott, wie konnte dieses tote Mädchen Allie sein?
Er spürte, wie sich eine Hand auf seinen Arm legte. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Vor seinen Augen wirbelten Blumen und Stofftiere und Tannenzapfen wie ein Zyklon durcheinander und raubten ihm den Atem. Es fühlte sich an, als würde er nie wieder sprechen können.
»Alles in Ordnung, Sir?«
Er konnte die Stimme durch das laute Brüllen des Zyklons hindurch kaum hören, und so wandte er sich dem Sprecher zu, um herauszufinden, warum er so leise sprach. Der Mann trug Rangeruniform. CHOI stand auf einem Namensschild über seiner Brusttasche. An seiner Hüfte hing eine Pistole.
»Allie«, brachte Ernest mühsam heraus. Aber es konnte nicht Allie sein. Das konnte einfach nicht stimmen.
»Vielleicht setzen Sie sich besser.«
Nicht Allie. Sie war in Los Angeles.
Aber sie hatte sich nicht verabschiedet. Und sie hatte weder angerufen noch geschrieben. Und das sah ihr überhaupt nicht ähnlich.
Ernest wusste zwar nicht, wie er dort hingekommen war, aber nun saß er auf einem Stuhl in der ersten Reihe und starrte auf das Foto.
Der Mann namens Choi hockte neben ihm. Unter dem Zeltdach befanden sich nur noch sie beide. Choi sah ihn aus seinen braunen Schlitzaugen mitfühlend an. »Haben Sie sie gekannt?«, fragte er.
Habe ich sie gekannt? Er wusste, wie ihr Haar roch, wusste, dass sie einen krummen Schneidezahn hatte und eine Narbe am Knie von damals, als sie auf die Gartenhacke gefallen war. Er wusste, dass sie Kunst und Englisch mochte und Mathe hasste, und dass die Fotos, die sie schoss, mit denen professioneller Fotografen durchaus mithalten konnten. Er wusste, dass mit Käse überbackene Makkaroni ihr Lieblingsgericht war, dass sie aber auch immer Pilze und grüne Bohnen dazutat, um sich ausgewogen zu ernähren.
»Haben Sie etwas von einer Allee gesagt?«, fragte Choi. »Lisa Glass wurde verletzt im Wald gefunden, nicht in einer Allee.«
Wie konnte Allie tot hier liegen, wenn sie doch eigentlich in Los Angeles sein sollte? Sie hatte ihm und Jack geschrieben … Aber sie hatte nicht ein einziges Mal angerufen. Und Jack hatte ihre Fotos behalten. Oh Gott.
Er vergrub das Gesicht in den Händen. Lieber Gott, nicht Allie. Nicht sein Mädchen. Nicht tot. Ich werde trocken, Allie, damit du dich nicht mehr für deinen Vater schämen musst und zurückkommst. Ich habe heute Arbeit gefunden, im Supermarkt. Nur Regale auffüllen, aber du wirst nicht mehr so hart arbeiten müssen.
»Haben Sie sie gekannt, Sir?«
Er wusste, dass sie sich Sorgen um ihr Gewicht machte und lieber mager als stämmig gewesen wäre. Aber er wusste nicht, was sie hätte studieren wollen. Allie hatte viele geheime Träume gehabt.
Wie konnte es Allie sein? Jetzt wünschte er sich wirklich, sie wäre in Los Angeles oder irgendwo anders. Aber du meine Güte – es passte alles zusammen. Der Waldbrand war in der Nacht ausgebrochen, in der er sie erwartet hatte. Auch wenn ihm das zu jenem Zeitpunkt wegen seiner Sauferei nicht klar gewesen war – Allie war immer nach Hause gekommen.
Jack hatte ihre Fotos an die Wand im Schlafzimmer gehängt, anstatt sie ihr zu schicken. Dieses Schwein hatte die ganze Zeit Bescheid gewusst. Was hatte Jack seiner Tochter angetan? Ernest setzte sich auf und packte den Ranger am Arm. Choi sah ihn überrascht an, und seine Hand glitt automatisch zur Waffe.
»Ich kenne sie«, brachte Ernest mühsam heraus. »Ich muss mit Ihnen reden.«
Der Gedenkgottesdienst für Lisa hatte den Wegetrupp verständlicherweise ziemlich
Weitere Kostenlose Bücher