Summer Westin: Todesruf (German Edition)
mich gestern auch gefragt.« Blackstock dachte einen Moment lang nach. »Vermutlich könnte sich durchaus jemand davonschleichen, sobald ich schlafe, aber dass jemand diesen Wagen anlässt, ohne dass ich das höre – niemals. Und andere Fahrzeuge gibt es hier nicht.«
Sam rieb mit dem Ellbogen über die beschlagene Scheibe und starrte nach draußen. Meilenweit nichts als Wald. Ob in dieser Gegend wohl auch Fahrspuren gepflügt worden waren? Es gab nicht genügend Ranger, um Tausende Hektar Wald zu kontrollieren. »Denken Sie, einer von ihnen könnte mit dem Auto abgeholt werden, das irgendwo im Wald hält?«
Er zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich schon. Aber wie sollten sie das organisieren? Ich bin der Einzige hier, der ein Handy hat.«
Sam dachte noch einmal über den Ablauf der Ereignisse am Freitagabend nach. »Hat man Sie über die Explosion und das Feuer informiert?«
»Davon habe ich erst Samstagmittag gehört.«
Also war in der entsprechenden Nacht niemand in der Unterkunft geweckt worden. Die Jungen hätten sich raus- und wieder reinschleichen können, ohne dass es Tom aufgefallen wäre.
»Lisa hat eine Zeichnung von einem ihrer Angreifer gemacht«, sagte Sam. »Er sieht aus wie eine Mischung aus Ben Rosen und dem Teufel.«
Blackstock schnaubte. »Das arme Kind!«
»Wer? Lisa?«
»Die natürlich auch, aber eigentlich meinte ich Ben.«
»Wieso sagen Sie das?«
»Er muss im Umkreis von 100 Meilen das einzige jüdische Kind sein. Die anderen ziehen ihn ununterbrochen deswegen auf.«
Interessant. Lisa und ihre Bibel. Ben ein Jude. Gab es da irgendeinen Zusammenhang? Sam wusste, dass einige Sekten Judenhasser waren, weil Jesus, wie sie behaupteten, von Juden umgebracht worden war. Aber Jesus war schließlich auch Jude gewesen, daher hatte sie diese Denkweise nie richtig nachvollziehen können. Natürlich musste sie in diesem Moment an ihren Vater denken, und sofort fühlte sie sich schuldig, weil sie nicht die eifrige Kirchgängerin war, die er sich gewünscht hätte. Es war wirklich nervig, wie sich diese Gedanken immer ungebeten in ihren Kopf einschlichen.
11
Am nächsten Morgen packte Sam alles ein, was sie an diesem Tag brauchte, legte Lisas Zeichenblock und Bibel auf den Beifahrersitz und fuhr zu dem für das westliche Gebiet zuständigen Verwaltungsgebäude. Dort befand sich auch das Nationalparkbüro, das ihrem Einsatzgebiet am nächsten lag. Arnie Cole war der Letzte, mit dem sie gern Zeit verbringen wollte, aber als Ranger des Forest Service war er für den Marmot Lake zuständig gewesen und daher vermutlich die beste Quelle für Informationen über die Vorgeschichte dieser Gegend.
Da keine Straßen durch den Olympic National Park führten, musste sie außen herum fahren, von einem Eingang zum nächsten, genau wie alle anderen Parkangestellten auch. Um die Sache noch komplizierter zu machen, waren der Küstenstreifen des Parks und die Bergregion durch mehrere Grundstücke voneinander getrennt, die dem National Forest oder Privatbesitzern gehörten. Zumindest war das so gewesen, bis der Präsident einen geschützten Wildkorridor vom Pazifischen Ozean bis zu den Olympic Mountains geschaffen hatte, indem er das Gebiet um den Marmot Lake dem Forest Service weggenommen und dem Park Service zugeschlagen hatte. Dennoch mussten die Tiere noch immer den zweispurigen Highway 101 überqueren, daran ließ sich nichts ändern. Zwischen den Stümpfen eines abgeholzten Geländes neben der Straße sah sie ein Reh mit seinem Kitz grasen. Hoffentlich wagten sie sich erst bei Nacht über die Straße, wenn kaum noch Verkehr herrschte.
19 Meilen lang fluchte Sam über den Fahrer eines Holzlastwagens, der sich einbildete, ihr mit seiner Karre direkt hinten auf der Stoßstange hängen und sie von Zeit zu Zeit mit der Lichthupe nerven zu müssen – als ob sie deshalb auf einer Straße, auf der 55 Meilen pro Stunde erlaubt waren, 80 fahren würde. Die Lastwagenfahrer wurden pro Ladung bezahlt, eine völlig blödsinnige Vereinbarung, die nur dazu führte, dass sie wie NASCAR-Rennfahrer durch die Gegend rasten. Es gab keine Möglichkeit, anzuhalten und ihn vorbeizulassen. Als sie endlich in dem Verwaltungsgebäude nördlich von Forks ankam, lagen ihre Nerven blank. Und das schon um kurz nach neun morgens!
Der National Park Service teilte sich das eingeschossige Gebäude mit dem Forest Service. Obwohl beides staatliche Behörden waren, kam diese gemeinsame Unterbringung Sam manchmal so vor, als würde man
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