Summer Westin: Todesruf (German Edition)
dabeizuhaben. Sie hatte vor, die Nacht in einer Gegend zu verbringen, in der es von Wilderern nur so wimmelte. Eine Gegend, in der eine Frau überfallen worden war – wenn Lisas Entführungsgeschichte stimmte. Andererseits hasste sie Waffen. Kugeln flogen weit und töteten Wesen, auf die der Schütze nicht mal gezielt hatte. Außerdem hatte sie 37 Jahre lang auch ohne Waffe überlebt. Ihr Funkgerät und ihr Handy hatten jetzt wieder Empfang. Falls irgendetwas passierte, konnte sie es beobachten und Unterstützung herbeirufen. Und mit etwas Glück hätte sie zudem das Überraschungsmoment auf ihrer Seite.
Sie ließ ihre Vorratstasche von der Bärenleine herab, nahm ihr Abendessen heraus und trug es zum Seeufer. Mit dem Fernglas um den Hals setzte sie sich auf einen Stein, kaute ihren Bagel mit Erdnussbutter und sah zu, wie die Nacht über dem Marmot Lake hereinbrach.
Mit der Dunkelheit kam ein leichter Wind auf. Das Wasser plätscherte sanft gegen das steinige Ufer wie ein ununterbrochenes Flüstern in der Dunkelheit. Die sanfte Brise fühlte sich angenehm an auf ihrem erhitzten Gesicht, aber das Murmeln des Wassers beunruhigte sie ein wenig, weil das Geräusch durchaus menschliche Schritte oder einen sich anschleichenden Bären übertönen konnte.
Sie hob das Fernglas an die Augen. Durch einen Hain aus schlanken Weinblattahornen hindurch konnte sie auf der anderen Seite des Sees undeutlich ihren Pick-up ausmachen. Lichter oder Bewegung waren nicht zu erkennen. Sie ließ den Blick über das Ufer wandern, an dem sie vorhin entlanggegangen war. Etwa 100 Meter entfernt vom Parkplatz glitt kaum wahrnehmbar eine Gestalt durch die Dunkelheit. Angespannt starrte Sam durch das Fernglas. Für einen Waschbären war die Gestalt zu groß. Für einen Bären nicht kräftig genug. Groß genug, um ein Mensch zu sein? Vielleicht auch zwei, Seite an Seite. Sam drehte an der Feineinstellung des Fernglases, bekam aber kein schärferes Bild. Dann schob sich ein schlanker Kopf, gefolgt von einem ebensolchen Hals, aus den Bäumen am Ufer. Das Tier schritt zögernd zum Wasser und senkte das Maul hinein. Anschließend hob der Schwarzwedelhirsch den Kopf und drehte seine großen Ohren in Sams Richtung.
Sam beobachtete weiter ihre Umgebung. Mit zunehmender Dunkelheit verschwammen die Konturen immer mehr. Der Mond war über den Bergen aufgegangen, aber es würde noch eine Stunde dauern, bis er über den Bäumen stand.
Drei Enten schaukelten nicht weit von ihr entfernt im seichten Wasser und quakten von Zeit zu Zeit leise. Stockenten. Die beiden Erpel schwammen im Kielwasser der Ente, wie Teenager im Schlepptau einer Cheerleaderin. Sam musste an die Jugendlichen beim gestrigen Fußballspiel denken. Auch wenn die Paarungszeit längst vorbei war, waren die Erpel ganz eindeutig auf Sex aus. Die Jugendlichen vielleicht auch. Vielleicht hatte Joe recht, wenn er sich Sorgen um Lili machte.
Sam trank einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und genoss die herrliche Stille. Zarte Silhouetten huschten kreuz und quer über den See, kaum einen Meter über der Wasseroberfläche. Vielleicht Schwalben – wahrscheinlicher aber die kleinen braunen Fledermäuse, die in Felsspalten und unter lockerer Baumrinde nisteten. Ein Königslaubfrosch fing an zu quaken, ein weiterer fiel ein, und schon schwoll das Quaken zu einem Chor aus Amphibienstimmen an.
Sam ließ sich auf den Boden gleiten, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Fels und sog die Musik der Nacht in sich auf. Die Symphonie wurde lauter, dann brach sie auf einmal abrupt ab. Ein kehliges Knurren vom anderen Ufer betonte die plötzliche Stille. Sam hob rasch das Fernglas an die Augen.
Eine dunkle Gestalt tapste zum Ufer hinunter, watete in das seichte Wasser hinein, beugte den Kopf hinunter, schnüffelte und ließ ihn dann ins kühle Nass sinken. Raider! Mit der gerundeten Tatze schleuderte der Bär Wasser in die Luft, dann schlug er nach der kleinen Welle, die er ausgelöst hatte, und schnappte mit seinen in der Dunkelheit weiß aufblitzenden Zähnen nach den aufspritzenden Wassertropfen.
Wilde Tiere, die ganz in ihrem Spiel aufgingen, brachten Sam immer zum Lächeln. Raider sah wohlgenährt aus. Grunzend hockte er sich ins Wasser und hob die andere Tatze. Er spreizte die fünf Zentimeter langen Klauen und leckte und knabberte vorsichtig an der ledernen Innenseite herum, als würde er einen eingerissenen Nagel abbeißen wollen. War die Tatze verwundet?
Eine Ente quakte. Raider erhob sich auf die
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