Summer Westin: Todesruf (German Edition)
Hinterbeine und starrte gebannt in die Richtung des Geräuschs. Es war eine seltsam menschliche Körperhaltung, wie er mit den Tatzen gegen die Brust gepresst dastand und an einen stämmigen Holzfäller erinnerte. Nach einem Moment in aufrechter Stellung ließ er sich, wie sich das für einen Bären gehörte, wieder auf alle viere hinunter und kletterte das Ufer hinauf. Sam beobachtete, wie seine kräftige Gestalt zwischen den dunklen Bäumen verschwand. Sie war froh, dass er nur leicht hinkte.
Sie nahm das Fernglas herunter und lehnte sich wieder gegen den Felsen. Wie hatte sich Raider die Verletzung zugezogen? Ihr Zusammenstoß konnte nicht schuld daran sein – war das wirklich erst gestern gewesen? Vielleicht hatte er mit einem anderen Bären gerauft, oder vielleicht war die Wunde auch nur auf die übliche Bärentollpatschigkeit zurückzuführen – vielleicht hatte er sich einen Dorn eingerissen oder sich an einem spitzen Zweig verletzt. Oder eine Kugel hatte ihn gestreift, vielleicht die, die sie nur knapp verfehlt hatte. Sie musste an die Blutlache bei der Wendestelle denken, und das fachte ihre Wut erneut an.
Sie schlug nach einer Mücke, die sich auf ihre Wange gesetzt hatte. Ihr Gesicht fühlte sich schmierig an, genau wie der Rest ihres Körpers. Irgendwann im Laufe des Tages war der Schorf an ihrem Knie aufgebrochen, und wieder klebten Haut und Hose zusammen. Ihre Liege in der Unterkunft des Wegetrupps vermisste sie nicht, die heiße Dusche schon.
9 Uhr 30. Von Eindringlingen weit und breit nichts zu sehen. Im Licht des abnehmenden Monds wirkte die Oberfläche des Sees wie zinnfarbene Seide. Sam konnte nicht länger widerstehen. Sie zog sich aus und watete in das flache Wasser hinein.
Der See war kälter als erwartet, aber nachdem sie den anfänglichen Schock überwunden hatte, genoss sie die kühle Umarmung des Wassers. Sie legte die Hände um den glatten Felsen, streckte die Beine aus und dehnte ihre müden Muskeln. Dann senkte sie den Kopf und trank in großen Schlucken. Die erdige Frische wirkte herrlich belebend. Zum Teufel mit all den Warnungen vor Giardien! In diesem Moment war sie ein wildes Nachtgeschöpf, wie der Hirsch, die Frösche, die Enten, der Bär. Sie zog das Gummiband von ihrem Zopf ab und entflocht ihn, dann tauchte sie unter und schwamm hinaus in das silberne Mondlicht, das sich auf der Wasseroberfläche spiegelte. Neugierige Fische glitten an ihr entlang und versuchten, das große neue Wesen zu erfassen, das da in ihr Revier eindrang.
Weiter draußen war das Wasser noch kälter. Sam blies die Luft aus den Lungen und atmete langsam ein. Entlang des Ufers rührte sich nichts, kein Licht zu sehen, und zu hören war nur die Symphonie aus Froschquaken und leise plätscherndem Wasser. Sie legte sich auf den Rücken, ließ sich treiben und genoss selig die unbeschreibliche Schönheit von Sternen, Mond, Wasser, Pflanzen und Tieren.
Dann brach das Quaken der Königslaubfrösche abrupt ab. Eine Kreischeule heulte. Mit lauten Flügelschlägen flogen die Enten auf und nur wenige Zentimeter über Sams Kopf hinweg zum anderen Ufer. Sam ließ den Atem entweichen und glitt tiefer ins Wasser, bis nur noch ihr Kopf herausschaute. Sie starrte zum Ufer. Eulen jagten ihrer Erfahrung nach keine Enten. Irgendetwas hatte die Vögel aufgeschreckt. Sie hielt die Luft an und trat Wasser. Die Frösche nahmen ihr Konzert wieder auf. Vermutlich war es nur Raider, oder vielleicht ein Hirsch. Sie suchte das Ufer mit den Augen ab.
Dort. Ein Schatten, zu groß für einen Baumstamm. Eine unbewegliche Gestalt. Rechts von dem Felsen, an dem sie ihre Kleidung abgelegt hatte.
Sie versuchte, sich so leise wie möglich zu bewegen. Der schwarze Schatten rührte sich nicht. Also mit Sicherheit kein Tier. Dann konnte es nur ein Mensch sein. Sollte sie zum gegenüberliegenden Ufer schwimmen? Selbst dort könnte eine Kugel sie noch erwischen. Und nackt durch den Wald zu fliehen, war einfach zu erniedrigend. Zu Fuß würde sie zudem Stunden brauchen, bis sie Hilfe fand.
Zum Teufel auch! Wenn der Mann gewollt hätte, hätte er sie längst erschießen können. Ihr war kalt. Sie vollführte Brustschwimmbewegungen unter Wasser, schwamm langsam in den Uferbereich und tastete nach einem lockeren Stein, einem abgebrochenen Zweig, nach irgendetwas, das ihr als Waffe dienen konnte. Doch ihre Finger stießen nur auf den glatten Felsvorsprung. Verdammt! Sam spürte, wie er sie beobachtete. Sie bekam kaum noch Luft. Sie war nicht
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