Sumpfblüten
für das Frühstück, doch das Paar fuhr in schlaffem, ernüchtertem Schweigen nach Hause.
Die Umstände von Sammy Tigertails Empfängnis waren ihm nicht verborgen worden. Sein Vater fuhr dreimal die Woche einen Budweiser-Laster von Naples nach Fort Lauderdale und zurück und war Stammkunde auf der Miccosukee-Raststätte, wo Sammy Tigertails Mutter im Souvenirladen arbeitete. Da sie ernsthafte Bedenken hatte, einen halb weißen Sohn im Reservat großzuziehen, erklärte sich Sammy Tigertails Mutter widerstrebend damit einverstanden, dass sein Vater den Jungen zu sich nahm.
Und so war Sammy Tigertail für die ersten vierzehneinhalb Jahre seines Lebens Chad McQueen. Er wohnte in einem Mittelklassevorort in Broward County, mit seinem Vater und – ab seinem vierten Lebensjahr – mit einer Stiefmutter, die mit aller Gewalt versuchte, ihn an die amerikanische Kultur anzupassen. Als er heranwuchs, zeigte der Junge kein Interesse an Fußball oder Videospielen oder Skateboards. Seine Leidenschaft war die freie Natur und das Erlernen der Rockmusik, die im Autoradio seines Vater spielte. Als er in der ersten Klasse war, sang er die Lieder von Creedence Clearwater, den Stones und den Allman Brothers mit. Alle sagten, es würde schon etwas aus ihm werden, trotz seiner indianischen Gene.
Dann starb sein Vater eines Tages plötzlich. Nach der Beerdigung fuhr die Stiefmutter des Jungen ihn in die Everglades zurück und setzte ihn auf der Raststätte ab. Er hatte das kommen sehen und freute sich insgeheim darauf umzuziehen. Jeden zweiten Sonntag hatte sein Vater ihn ins Reservat gebracht, um seine richtige Mutter zu besuchen, und dem Jungen gefiel es dort draußen.
»Ich hätte dich niemals weggeben dürfen«, sagte seine Mom, als er mit seinem Koffer und seiner Angelrute auftauchte. »Hier gehörst du hin.«
»Das glaube ich auch«, sagte der Junge.
»Weißt du noch, wie du mit bloßen Händen eine Wassermokassinotter gefangen hast? Du warst erst sieben.«
»Ich hab nicht gewusst, dass sie giftig war«, erinnerte ihr Sohn sie. Es war eine peinliche Episode gewesen. »Ich dachte, es wäre eine Wassernatter«, fügte er hinzu.
»Aber du hattest keine Angst!«, wandte seine Mutter hilfreich ein. »Da habe ich gewusst, dass du hierher gehörst und nicht in diese andere Welt. Das Erste, was wir tun werden, ist, das mit deinem Namen in Ordnung zu bringen – von heute an bist du ein Tigertail, genau wie ich.«
»Chad Tigertail«, verkündete der Junge stolz.
Seine Mutter zuckte zusammen und schüttelte den Kopf. Ihr Sohn gab ihr Recht: »Chad« war definitiv zu weiß fürs Reservat.
»Wie wär’s mit ›Sammy‹?«, schlug er vor.
»Hervorragend. Das war der Name deines Urgroßvaters.«
»War er ein Krieger?«
»Nein, ein Trapper. Aber dein Ur-ur-urgroßvater war ein Häuptling.«
»Tiger Tail?«, rief der Junge aufgeregt. »Der Tiger Tail?«
Es stimmte. Sammy stammte von einem der letzten großen Se-minolenkrieger ab, von Thlocklo Tustenuggee, einem gerissenen Stammesführer, dessen Schicksal Sammy als Mysterium zu betrachten beschloss. Den meisten Berichten der US-Army nach war der Häuptling nach New Orleans gebracht worden, wo er in einem stinkenden Militärverlies an Tuberkulose gestorben war. Doch mindestens ein Erzähler der Tiger-Tail-Legenden behauptete, er habe auf dem Schiff nach Louisiana Selbstmord begangen, indem er gemahlenes Glas geschluckt hätte. Ein anderer sagte, er sei nach Mexiko geflohen und schließlich nach Florida zurückgekehrt, wo er bis ins hohe Alter gelebt habe.
Sammy fühlte sich geehrt, dass er zur Hälfte ein echter Tigertail war, und abgesehen von seinen irischen blauen Augen sah er auch aus wie ein Vollblutindianer. Um die verlorenen Jahre seiner weißen Kindheit aufzuholen, verbrachte er Stunden damit, den Geschichten der Ältesten zu lauschen. Er beneidete sie darum, dass sie in einer Zeit aufgewachsen waren, als der Stamm noch in verhältnismäßiger Isolation gelebt hatte, durch die Sümpfe abgeschirmt gegen die andere Welt.
Jetzt lagen die Dinge anders. Jetzt gab es Casinos und Hotels und Raststätten, und der haltlose Strom der Außenseiter bedeutete das dicke Geld für die Seminolenunternehmen. Einige Stammeshäuptlinge flogen sogar in Privatjets und Hubschraubern in Florida herum, was manche Leute beeindruckte, nicht aber Sammy Tigertail. Er blieb im Reservat und arbeitete hart, obgleich sein häufiges Pech andere untereinander flüstern ließ, er sei durch seine
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