Suna
Geburtstag.
Bis zu ihren Tod blieben die Feiern zu Großmutter Irmas Geburtstag ein festes Ritual meiner Sommer. Man bekam eine handgeschriebene Einladungskarte, und Gästeschar und Programm waren ebenso unabänderlich wie die Speisenfolge: Immer gab es einen musikalischen Auftritt, immer trug mein Vater Johannes ein kluges und satirisches Gedicht vor.
Als meine jüngere Schwester Ruth und ich größer wurden, mussten auch wir, die einzigen Enkeltöchter, unsere Beiträge leisten.
Damals jedoch, als Irma achtzehn wurde, ließen ihre Eltern den Garten zum ersten Mal schmücken und das Haus dekorieren. Zum ersten Mal wurde ein Festprogramm gestaltet und die Köchin zeigte, was sie konnte. Torten gab es, Meringen, Braten und Kroketten, Limonaden, Bier, selbstgemachtes Pfirsicheis und reichlich Bowle.
Thea schenkte aus und bedachte in der Hauptsache Albrecht, weil sie sich davon versprach, ihn in etwas »lockerere Verfassung zu bringen« und so vielleicht einen gemeinsamen Tanz für die Schwester zu ermöglichen.
Irma betrat eine kleine improvisierte Bühne und sorgte mit ihrer wunderschönen Singstimme für Begeisterung unter den Gästen. Allgemeines »Ah« und »Oh« begleitete ihren Auftritt.
Mitten im Applaus erbrach sich der Vikar jedoch über das Spanferkel. Man trug den einen in sein Zimmer hinauf, das andere hinaus auf den Misthaufen.
Irmas Gefühle für Albrecht hielten an – und wurden erwidert.
Der Pfarrer, in ernsten Situationen offenbar mehr dem Pragmatismus zugeneigt als der Einhaltung insgeheim für überflüssig erachteter Anstandsregeln, hatte gegen die Verbindung nicht das Geringste einzuwenden. Selbst das Alter des Zukünftigen war für ihn kein Hinderungsgrund, im Gegenteil. Er ahnte, dass ein offener und dennoch schon so gesetzter Geist wie Albrechts genau das richtige Gegenstück für Irma war, die er für liebenswert, wenn auch ein bisschen einfältig hielt.
Er lächelte den zukünftigen Schwiegersohn an.
»Was bedeutet Ihnen die Ehe?«, fragte er.
»Ehe«, sagte Albrecht, »bedeutet, aneinander zu wachsen. Sich zu reiben, sich auszutauschen, von Gleich zu Gleich.«
»Gleich zu Gleich?«, fragte der Vater.
»Wie sonst könnte ein Wachsen möglich sein«, sagte Albrecht.
»Muss denn nicht das Weib dem Manne untertan sein?«, hakte der Pfarrer ein.
»Wozu sollte das gut sein?«, fragte Albrecht zurück.
»Es hilft, das Gleichgewicht zu wahren in einer Verbindung«, sagte der Pfarrer.
»Meinen Sie nicht, im Wort Gleichgewicht steckt zu erheblichen Teilen das Wort gleich?«, versetzte Albrecht.
Es dauerte nicht lange mit der Schwangerschaft – es dauerte aber auch nicht lange mit dem Krieg. Der Vikar wurde eingezogen, als er gerade erfahren hatte, dass er Vater werden würde.
Während Albrecht mit seiner Sanitätseinheit den Truppen ins Baltikum folgte, kam zu Hause sein Sohn Johannes zur Welt. Albrecht sah ihn nur ein einziges Mal während eines Fronturlaubes. Bevor er nach Litauen zurückmusste, pflanzte er trotz des kalten Novembers im Garten für Irma einen Rosenbusch.
»Wird schon anwachsen«, sagte er und verabschiedete sich ein allerletztes Mal von seiner Frau. Er nahm seinen Federkasten mit und schickte Irma in den nachfolgenden Monaten nicht weniger als zweihundertfünfunddreißig durchnummerierte Feldpostbriefe, verziert mit kleinen Zeichnungen, in denen er seinen Frontalltag festhielt. Einhundertdrei seiner Briefe erreichten tatsächlich ihr Ziel.
»Morphium wäre schön«, schrieb er zuletzt immer öfter, »nicht für die Verwundeten, denen nützt es nicht mehr, nein, für mich, liebste Irma, für mich. Aber sag, wie geht es den Rosen?«
Irma bewahrte jeden seiner Briefe in einer kleinen Schatulle in ihrem Schreibtisch auf. Eines Sommertages saß sie dort und hatte gerade damit begonnen, eine ausführliche Zusammenfassung der vergangenen Woche zu verfassen. Auch in der kleinen Stadt zwischen den Ausläufern der schwäbischen Alb wurde der Krieg nun spürbar, aber das verschwieg sie. Er sollte sich nicht noch mehr um sie sorgen.
Stattdessen stellte sie für Albrecht eine genaue Liste der Wörter zusammen, die der kleine Johannes schon sprechen konnte. Gerade schrieb sie, wie sie ihn beim Spielen draußen im Garten beobachten konnte, wo er unter der Aufsicht von Thea so schön beim Gießen und Beschneiden des Rosenbusches half, als ihr schwarz vor Augen wurde. Sie wollte sich an der Tischkante festhalten und warf beim eiligen Greifen danach das Tintenfässchen um,
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